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Die Zügel schießen lassen

Gut, nä? Die 3. „Skulptur. Projekte“ in Münster zeigen Kunst mit visueller, taktiler und sozialer Kraft. Puppenspiel und Wochenmarkt inklusive  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der internationale Troß der Künstler, Journalisten, Kuratoren und Händler ist weitergezogen von Kassel nach Münster. Dort hatten Klaus Bußmann und Kasper König die Pressekonferenz für den Sonnabend auf 12 Uhr angesetzt, ein Coup: vor dem Landesmuseum fand der Wochenmarkt statt, eine prächtige europäische Idylle. Die Angereisten vermischten sich mit den Ansässigen, Kunst und Leben zeigten sich sogleich untrennbar miteinander verwoben. Irgendein verrückter Bauer hatte ein dreirädriges Piaggio-Vehikel vor dem Museum abgestellt und an die örtliche Wasserversorgung angeschlossen: die Ladefläche als Bassin. Über eine Art höhergelegten Auspuff trat das Wasser auf den Fußweg aus.

Aber Spaß beiseite: Das Vehikel mit dem St. Gallener Kennzeichen war natürlich das erste Erkennungszeichen der „Skulptur. Projekte“ 1997, einer Art internationalem Sommerfestival für künstlerische Intervention (vor ein paar Jahren benutzte man ein solches Wort ohne einen Anflug von Grinsen). Was dabei herauskam, waren: große Gesten, melancholische Verstiegenheit, kritisches Gedenken, ephemerer Kommentar und allerlei Schabernack. Und ein paar offene Fragen zur Soziologie öffentlicher Skulptur.

Was das Ganze überhaupt „soll“, wurde bündig beantwortet durch den Meister der engagierten Kunst, Hans Haacke. Auf der Grünfläche neben dem Landeshaus ließ er einen sechs Meter hohen runden Bretterverschlag errichten, der hoch oben mit Stacheldraht abschließt. Durch die Ritzen kann man ein altertümliches Kinderkarussell kreisen sehen: Pferd, Löwe, Kamel und Frosch vor exotischen Motiven mit Pelikanen, Papageien und Kakadus. Aus dem Inneren dringt ein eilig in die Tasten gehauenes Lied, dessen synthetisches Plärren sich als Haydns Melodie herausstellt, die zur Zeit als unsere Nationalhymne fungiert. (Zwei Achtjährige mit bunten Schulranzen kommen näher. Sie lugen durch die Ritzen. „Gut, nä?“ sagt der eine, der andere nickt. Sie gehen weiter.)

Haackes „Standort Merry-go- round“ rührt an die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit und Hammond-orgelt sich an das deutsche Gefühl von Zerrissenheit. Entdeckt man direkt neben dem Karussellverschlag das Kriegerdenkmal mit den in Stein gehauenen nackten Muskelprotzen (es gedenkt der preußischen Kriege „und Siege“ und der „Neuerrichtung“ des deutschen Reichs 1871), wird klar, daß Hans Haacke ein emotionales Negativ geschaffen hat. Er kehrt die falsche Unschuld der kollektiven Identität heraus und nennt ihr martialisches FKK einen süßlichen Selbstbetrug.

Das Signet der „Skulptur. Projekte“ ist dem Motiv der Telefonwählscheibe (genauer: dem runden Pappkärtchen, das traditionellerweise darin untergebracht war) entlehnt. Und das runde Objekt als Einschluß und Ausschluß ist wirklich das Leitmotiv der Schau. Dazu gehört die Wiederöffnung des Zwingers, eines dreigeschossigen Turms, der im 16. Jahrhundert Teil des Forts war, aber von der großen Zeit des deutschen Barock bis in die wilhelminische Kaiserzeit als Gefängnis diente. In den feuchten, engen Zellen flackern rote Lichter. Allenthalben haben sich metallische Wesen in die Mauern gekrallt, die mit ihren hammerartigen Schnäbeln geistesabwesend Löcher in den Backstein picken: Die sinnbildliche Installation von Rebecca Horn ist zehn Jahre alt, aber wird erst jetzt für das Publikum dauerhaft geöffnet sein.

Zu den kreisrunden Arbeiten gehört auch eine eher sentimentale Videoinstallation der Kalifornierin Diana Thater (geb. 1962) im steilen Buddenturm – es geht um die „Wildheit“ und „Dressur“ von Pferden – sowie die Aufmauerung eines „sanctuariums“ im Grünen durch einen offensichtlich mystisch geneigten Holländer, herman de vries (geb. 1931), der damit ein Zufallsbiotop einrahmt. Was auch immer dort wachsen mag, ist durch ovale Öffnungen einzusehen.

Das zentrale runde Werk aber ist ein roter Punkt. Man findet ihn vor der Haustür des Appartementhauses Von-Kluck-Straße 36. Der grüne Drahtzaun zum Nachbargrundstück, das zu einem katholischen Mädchengymnasium gehört, mußte aufgeschnitten werden, um die Markierung des „Schwerpunkts der Stadt Münster“ in Beton möglich zu machen. Angeblich hat Karin Sander ihn nach den Gauß-Krüger-Koordinaten – was auch immer das genau ist – errechnen lassen. Eine gewisse Knappheit des künstlerischen Ausdrucks kann man der 40jährigen Künstlerin gern bescheinigen.

Im Krieg schwer zerstört, ist das historische Münster eine Art „Disneyland“, wie Klaus Bußmann, der Direktor des Westfälischen Landesmuseums, vor einigen Jahren anmerkte. Die „Skulptur. Projekte“ 1977 waren der erste, mühsame Versuch, die katholisch dominierte Stadt in eine Korrespondenz über bildende Kunst zu verwickeln. 1987 war es schon ein Riesenzirkus; eine Art Wettkampf um die Ausdeutung der urbanen Substanz und der lokalen Traditionen. Jetzt gibt es fast keine Freiräume mehr, sagt Bußmann; und Kasper König, der offiziell für diese Projekte als alleiniger Kurator genannt wird, ist aufgefallen, daß die Anliegen der Künstler persönlicher geworden seien.

Vor allem ist Münster keine Leistungsschau der Bildhauerei, sondern ein Symposion kluger Künstler und Vermittler – die nicht realisierten Projekte werden im aufwendig restaurierten Altbau des Landesmuseums dokumentiert. Gabriel Orozco, zum Beispiel, wollte ein Riesenrad aufstellen und halb unter die Erde versenken lassen. Was dem Vorgänger vor zehn Jahren ähnelt, ist der Kontrast von Monumentalem und Unsichtbarem, von reiner Skulptur und schwindelerregender Abstraktion. Nam June Paik hat eine Schiffsladung buckliger Schrottautos aus dem Mittleren Westen der USA importieren und versilbern lassen. Sie stehen wie blasierte Partygäste in Gruppen vor der Fassade des Schlosses. Das Gegenteil: Peter Fischli und David Weiss aus Zürich haben sich von einer alten Dame einen nicht bestellten Garten geliehen und im Laufe des letzten Jahres nach allen Regeln und Kniffen der Hobbybranche als Nutzgarten anlegen lassen. Ein paar Wochen vor der Ausstellung ließen sie die Zügel schießen, so daß das Ganze – mit Unkraut, Werkzeug, Bierflaschen, Gummihandschuhen und Unterstand – nicht den geringsten Hinweis darauf bietet, überhaupt Gegenstand irgendeiner künstlerischen Überlegung zu sein. Während Paik mit seinen Silberschlitten als Deus ex machina auftritt, konterkarieren Fischli/Weiss die Nachfrage nach dem künstlerischen Subjekt mit einer nahezu undurchdringlichen Camouflage. Die Münsteraner lieben Paik, und die Künstler lieben Fischli/Weiss. Die „Skulptur. Projekte“ sind definitiv Plural.

Am Ast der Legitimation ist so lange gesägt worden, daß man nur noch feststellen kann: Er ist ab. Im Freiraum dessen, was Skulptur sein kann, schweben allerdings einige Ideen, die in Kassel nicht, in Münster aber sehr wohl zur Landung angesetzt haben. Der bizarrste Entwurf kommt von Marie- Ange Guilleminot (geb. 1960), die sich für die Dauer der Ausstellung in einem stillen Theaterhof eine Klause aus zwölf Holztüren errichtet hat. Darin schließt sie sich zu bestimmten Tageszeiten ein. Die Besucher nehmen Kontakt zu ihr auf, indem sie sich draußen hinsetzen und mittels Öffnung durch eine Art Textilschlauch ihre Füße hineinstrecken; Guilleminot antwortet mit einer fachkundigen Massage. Man sieht Leute mit geschlossenen Augen, die stöhnen. Die Künstlerin schweigt, auch wenn einer dankt.

Der andere Entwurf, der Skulptur als Interaktion begreift, kommt von Rirkrit Tiravanija, einem jungen und von unbegreiflicher Heiterkeit durchfluteten Star der Kunstszene. Vom Museum versorgt mit Quellenmaterial, stieß er auf die Zoologische Abendgesellschaft, die bei ihren Fundraising- Treffen Schwänke zur Aufführung brachte, wobei – wie Tiravanija auf Fotos der Jahrhundertwende bemerkte – nur Männer spielten, auch wenn es Frauenrollen waren. Eins der Stücke wird nun als Freilichtmarionettentheater in der Nähe des früheren Eulenhauses von Schülern und Schülerinnen des Paulinums unter Leitung des Lehrers Manfred Derpmann zur Aufführung gebracht: thailändische Puppen mit weitaufgerissenen weißen Augen und schlohweißem Haar in westfälischer Bauernkleidung, geführt von rührenden Gymnasiasten, denen man beim Spiel zusehen kann, weil der Bühnenverschlag der Puppenbühne regelwidrig offengelassen worden ist. Dazu darf sich das Publikum an 42prozentigem Magenlikör von Anton Appels aus Münster-Mecklenbeck bedienen.

Die „Skulptur. Projekte“ zum drittenmal durchzuführen, beschloß der Rat der Stadt 1989 ohne ein entsprechendes Angebot zu haben. Weil Kurator Kasper König vor drei Jahren als Favorit für die Leitung der documenta galt, erwartete das reisende Publikum, in Münster jetzt einen Gegenentwurf zu finden. Das ist aber nur teils berechtigt.

Denn nach Münster werden keine Werke bestellt, sondern Künstler eingeladen. Ihre Arbeit entsteht im Geflecht von Museum, städtischen Ämtern, der katholischen Kirche und der Universität – immer mit Blick auf das örtliche Publikum. Manche Künstler setzen auf Vandalismus, andere auf das Staunen. Die Stadt, inzwischen rot-grün regiert, hat gelernt, die Kunst anzunehmen – nicht als Gabe, sondern als Eingriff in die Befindlichkeit. Mit leichtem Fieber lauscht die Stadt ihrem Herzschlag. Münster ist durch seine „Skulptur. Projekte“ ein exemplarischer Platz mit einem exzeptionellen Selbstverständnis geworden.

Dennoch kann man die Projekte als Beleg dafür anführen, daß der documenta-Entwurf einer selbstkritischen Kunst an der Gegenwart vorbeirauscht. In Münster findet man die Arbeiten von Tiravanija, Guilleminot, Christine Borland, Douglas Gordon und Jorge Pardo – Künstlern unter Vierzig, die etwas zu sagen haben. Es geht um Kunst mit visueller, taktiler und sozialer Kraft. Wer sie nicht wahrnimmt, hat zuviel in Büchern gelesen, in denen alles erklärt ist.

„Skulptur. Projekte“ in Münster 1997. Kuratoren etc.: Kasper König, Klaus Bußmann und Florian Matzner. Bis zum 28. September. Katalog mit einer gründlichen Einleitung („Kunst und Stadt“) von Walter Grasskamp, 540 Seiten, cantz Verlag, 48 DM

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