: Vorfreudianisches, in Valente getränkt
■ Konstanze Lauterbach inszenierte Rózewicz am Münchner Residenztheater
Ein schönes Paar, ganz in Rot. Er hebt sie, er wirft sie, er hält sie. Und selbstbewußt gibt sie sich ihm hin. Das ideale Paar. Ein Sinnbild erfüllter Sinnlichkeit und Liebe, durch alle Szenen tanzend. Doch dann marschiert in lockerer Ordnung die Familie ein. Drei Generationen nebst Dienerschar, und alle schlecken Eis. Verwirrt, aber neugierig, das Kopfkissen im Arm, entdecken zwei junge Mädchen ihre Sexualität und sublimieren ihre Ängste: Bianca flüchtet in dichterische Phantasien, und Paulina beruhigt sich mit Süßigkeiten, die sie vom geilen Opa gegen Jungmädchendessous tauscht.
„Weiße Ehe“ (1975) von Tadeusz Rózewicz zeigt die Erotik als allgegenwärtige, verdrängte wie unterdrückte Bedrohung für eine gleichermaßen von Katholizismus wie Sozialismus geprägte Gesellschaft. Eigene Empfindungen der Mädchen wirken gleich wie hysterische Ausbrüche. Eine surreale Groteske voll unerfüllter Wünsche, unbefriedigter Frauen und geiler Männer. Im Mittelpunkt steht der Phallus. Im Wald, im Traum, als Erscheinung.
Diese altbackenen Bildphantasien hat Konstanze Lauterbach durch andere Sinnlichkeits- und Sehnsuchtsbilder ersetzt. Traumsequenzen durchschneiden als Tanzszenen von der Leipziger Choreographin Irina Pauls die Erfahrungsszenen der Mädchen: Der Vater jagt hinter jeder Dienstmagd her wie ein Stier, die Mutter trauert beim ungeliebten Mann, auch die Tante verlor mit dem Mann im Kriege nicht ihre erotischen Wünsche, und der junge Benjamin versteift in Unsicherheit zwischen dem Angebot der Tante und der Verweigerung Biancas. Die man einfach mit ihm verheiratet. Ihre Gegenwehr ist die Forderung nach der nicht vollzogenen Ehe, der ménage blanc!
Rózewicz, 1921 geboren, war im Kriege Partisan. Er gehört zur Generation der von der faschistischen Okkupation geprägten polnischen Autoren. In seinen – in Deutschland bekannteren – Gedichten und den seit 1959 entstandenen Stücken sucht er aus der Erfahrung der Greuel das „wahre Wesen“ des Menschen zu rekonstruieren. Leider vergräbt er es in „Weiße Ehe“ in Figuren, die aus der Mottenkiste vorfreudianischer Sexualtypologie stammen. Tanja Schleiff und Isabell Schosnig aber spielen Mädchen von heute. Die Regisseurin hat den Text entmufft und gestrafft, hat die Geschichte aus dem polnischen Gutshaus um 1900 in die Zeitlosigkeit von heute verlegt und aus dem Pubertätsdrama ein Stück der Sehnsuchtsuche gemacht. Einsam kämpfen nun alle, auch die Männer sind nicht mehr nur bedrohlich. Der Vater posiert eher verzweifelt, und Bärbel Wachtholz als Mutter schaut sehnsüchtig zurück: „Damals, damals war alles so schön“, tönt es, und Caterina Valente singt für die Mädchen von Habanero.
Metaphern, Bilder und Bewegungsabläufe prägen die kräftig aufgebrochene Fabel von Rózewicz, wie in allen Inszenierungen Konstanze Lauterbachs werden „Psychologien über Aktionen formiert“ statt über Dialoge. Seit sie 1993 mit Galesniks „Die Besessene“ aus Leipzig zum Theatertreffen eingeladen wurde, hat sie – als Hausregisseurin in Leipzig, aber auch als Gast in Bremen, Wien, Graz und nun München – Stücke von Brecht und Müller, Schiller und Lorca inszeniert und dabei einen poetisch bewegten Stil entwickelt, auf ganz eigenem Posten, irgendwo zwischen Frank Castorf und Pina Bausch.
Rózewicz allerdings bringt sie nicht richtig zum Tanzen. Indem sie das Pubertätsstück zur Sinnlichkeitssehnsucht verallgemeinert, verliert das Stück seinen Boden, entsteht Erklärtheater von müdem Schwung – selbst wenn der Einfall, mit Nelkenstrauß oder erhobener Faust auch politische Sublimierungen zu zeigen, ganz hübsch ist. Dabei hat Helmut Stürmer eine schöne Spielfläche gebaut: eine offene Halle, zur Rückwand leicht gestuft ansteigend. Links verbarrikadiert ein Stuhlgebirge den Raum, vorn leuchtet ein Rasenstück als kleine Hoffnung, und rechts ragt eine Kletterstaude in den Himmel. An der Bianca vergeblich versucht, hinaufzuklettern.
Am Ende bricht Paulina auf in die Welt, während Bianca sich die Brüste abzuschneiden sucht, um dem Gatten „Bruder“ zu sein. Nur Mensch und gleichberechtigt. In München stieß das auf Verblüffung. Noch in der zweiten Vorstellung stritten sich Buhs und Bravos. Hartmut Krug
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