: In zwei, spätestens in drei Jahren...
Lebenslange Lebenslüge nennt ein türkischer Sozialarbeiter den Plan der ersten Generation von Migranten, bald in die Heimat zurückzukehren. Nun müssen sie als Rentner in Deutschland neue Wege gehen ■ Von Daniela Weingärtner
Wanderer zwischen Weinbergen, ein Sommersonntag an der Ahr. Deutsche Spaziergänger grüßen und liefern wortreiche Wegbeschreibungen. Die Herren vom Kölner Altenclub sind schließlich fremd hier. Auch haben sie den Anschluß an ihre Gruppe verloren. Aber fehlgehen können sie nicht. Tief hat sich der Fluß zwischen die Hänge gegraben und den Weg nach Ahrweiler vorgezeichnet. Es bliebe also Zeit für ein Gläschen, bedeutet der schwitzende Mountainbiker augenzwinkernd. Der Pfad heiße ja nicht zufällig Rotweinwanderweg. Allah wird ein Auge zudrücken. Die drei Aleviten in der Gruppe schwenken die Bierdosen. Ihr Gott hat ohnehin keine Einwände gegen Alkohol.
Die anderen Herren lachen höflich. Zwei Bypässe, ein Herzschrittmacher kämpfen sich wacker den Hang hinauf. Wandern, diese urdeutsche, für Fremde verwirrende Leidenschaft, zu schwitzen, ohne dabei zu arbeiten. Schon beim Blick in den Kleiderschrank haben die meisten gezweifelt, ob es eine gute Idee war, ihrem unternehmungslustigen Sozialarbeiter zuzusagen. Die Frage, was anzuziehen sei zu einer Tätigkeit, die man noch nie im Leben probierte, hat zu den unterschiedlichsten Ergebnissen geführt.
Mehmet Kalaman hat sich für den guten Anzug entschieden, dunkelblau, Krawatte, mit passender Helmut-Schmidt- Mütze. Nach fünf Kilometern ist ihm klar, daß seine Aktentasche hier eher hinderlich ist. Er hat einen dicken Knüppel gefunden und sich das schwarze Trumm aus Plastik wie ein Bündel über die Schulter geworfen.
Mehmet Ipek mit grünem Gebetskäppchen und großkariertem Mantel wandert unbeschwert, ein bißchen warm vielleicht. Kaum von den deutschen Rotweinwanderern zu unterscheiden ist Cahit Aslim mit seiner NY-Baseball- Cap, Rucksack und Jogginganzug. Einige kommen heute zum erstenmal aus Köln raus. Jahrelang hat ihr Leben aus drei festen Größen bestanden: Arbeiten, Ausruhen, Urlaub zu Hause. Jetzt sind sie Vorruheständler, Rentner, türkische Senioren, und die drei festen Größen gibt es nicht mehr. Wäre ihr Lebensplan aufgegangen, hätte sich die Frage für sie erübrigt, was man in Deutschland zum Wandern anzieht.
Dieser Lebensplan war denkbar einfach. In Deutschland verdienen, in der Türkei ausgeben. Es hört sich schlüssig an. Serif Issi, der in Köln den türkischen Seniorenclub gegründet hat, nennt es die lebenslange Lebenslüge. „Sie sprachen von Rückkehrprämien, von Investitionen zu Hause. Und der kleine Issi sprach von Krankheit, Pflegeversicherung, von Aktivitäten des Alters.“
Zweimal in der Woche sitzen sie in einem Dachzimmer der Arbeiterwohlfahrt in Köln, in ihrem „Erzählcafé“, trinken Tee und spielen Tavli. Fragt man sie, warum aus ihrem Lebensplan nichts geworden ist, hört man immer wieder die gleiche Geschichte. „Ich kam mit einem kleinen Koffer und finde mich heute mit einer Großfamilie“, sagt Remsi Pekzorlu, der Seniorenbeirat mit den weisen traurigen Clownsaugen. Arif Bektas zieht die Schultern hoch und breitet hilflos die Arme aus, als staune er noch immer, daß alles so gekommen ist: „Die Kinder wollen nicht zurück. Die Enkel auch nicht. Wenn wir Urlaub machen in meinem Häuschen am Meer, dann sagen sie nach zwei Wochen: Opa, laß uns nach Hause fahren. Uns ist so langweilig.“
Oft hören sie sich im Dachzimmer an, was der kleine Issi zu sagen hat. Er ist einer von ihnen. Und er hat studiert, sozusagen. „Die Lebenssituation alt gewordener Ausländer“ heißt seine Diplomarbeit in Soziologendeutsch. Sie beschreibt das Lebensgefühl einer vergessenen Migrantengeneration: derer, die als erste nach Deutschland kamen mit dem Vorsatz, rasch Geld zu verdienen, um sich zu Hause eine Existenz aufzubauen.
Ein Vierteljahrhundert später sind die meisten immer noch da. Jeder vierte Ausländer lebt bereits mehr als zwanzig Jahre in Deutschland, 340.000 Migranten sind heute im Rentenalter. Zu den Problemen, mit denen sich deutsche Senioren herumschlagen, kommen bei ihnen noch ein paar hinzu. Die lebenslange Lebenslüge ist daran schuld, daß sie ihre Ersparnisse und ihre Hoffnungen in der Türkei investiert haben. Arif Bektas wohnt in einer kleinen Kölner Mietwohnung, und das Häuschen am Marmara-Meer steht leer. Remsi Pekzorlu hat eine deutsche Frau geheiratet. Aber für einen Deutschkurs war nie Kraft übrig und Zeit. Erst als er in den Seniorenbeirat gewählt worden ist, hat Serif Issi ihn dazu überredet. „Wer mitmischen will, muß richtig Deutsch können“, hat er gesagt.
Weil sie für die schlechtbezahlten Jobs angeheuert waren, müssen türkische Rentner mit weniger Geld auskommen als ihre deutschen Altersgenossen. Und sie haben weniger Erfahrung mit dem Altwerden. Als Arif Bektas' Eltern mit fünfundvierzig Jahren in Rente gingen, wie es in der Türkei üblich ist, arbeitete er schon lange in Deutschland. Er muß sich nun seinen Ruhestand selbst erfinden.
Natürlich verbringt er jetzt mehr Zeit als früher in der Moschee. Aber der Sozialarbeiter Issi hat seinen Ehrgeiz daran gesetzt, Alter und Tod nicht den Hodschas zu überlassen. Zum Jahreswechsel hat er jedem einen Terminkalender geschenkt. Um den Senioren klarzumachen, daß sie noch Wichtiges vorhaben. Ein eigener Stand bei der Seniorenmesse, Seminare, Besuche im Altenheim – der Terminkalender ist voll.
Fast jeden Tag schaut Arif Bektas im Oranienhof vorbei. Dort leben bislang nur zwei türkische Bewohner. Sie teilen sich ein Zimmer, aber ihre Einsamkeit lindert das nicht. Nazir Eksi liegt den ganzen Tag im Bett, das Gesicht zur Wand. Er spricht mit keinem, auch mit Arif Bektas nicht, der Obst bringt und Tomaten.
Arif versteht das. Schließlich leben die Kinder von Nazir in Köln, aber sie besuchen ihn nie. „Bei uns ist das anders als bei den Deutschen“, erklärt er stolz. „Bei uns lassen die Kinder ihre Eltern nicht im Stich. Wenn sie es tun, bedeutet es große Schande für die Familie.“ Das scheint auch Herr Eksi so zu empfinden. Erst wenn es dunkel wird, steht er manchmal auf, zieht sich an und geht ins Caféhaus.
Osman Yayla würde viel darum geben, wenn er aufstehen könnte. Er ist ein Pflegefall. Seine Verwandten würden ihn gern in die Türkei holen, aber die medizinische Versorgung ist nicht so gut wie in Deutschland. Außerdem gibt es ein finanzielles Problem. Zwar reicht dort die deutsche Rente länger, aber die Pflegeversicherung fällt flach. Sie zahlt nur für Leistungen, die in Deutschland erbracht werden.
Keiner aus dem türkischen Altenclub glaubt heute, daß er selbst eines Tages im Oranienhof landen könnte. Sie alle haben ihren Traum von Heimkehr vertagt oder begraben, um näher bei ihren Kindern und Enkeln zu sein. Nun werden die für sie sorgen, wie es Sitte ist.
Für Serif Issi und seine Kollegen ist auch diese Hoffnung Teil der lebenslangen Lebenslüge. Längst haben die Zwänge und Sozialregeln der Industriegesellschaft Kinder und Enkel der ersten Generation fest im Griff. Kleine Wohnungen, berufstätige Ehefrauen, eine gewandelte Einstellung den Alten gegenüber – am Ende werden viele Mitglieder aus Serif Issis Seniorenclub doch auf einen Heimplatz angewiesen sein. 2,8 Millionen ausländische Rentner prophezeien die Demoskopen für das Jahr 2030.
Wenn Arif Bektas mit den anderen Clubmitgliedern im Dachzimmer beim Tee sitzt, bleiben die Frauen natürlich zu Hause. Sie fühlen sich wohler in den eigenen vier Wänden, sagen ihre Männer. Aber ein paar mildtätige deutsche Damen vom Nachbarschaftsverein finden sich ein. Türkisches Caféhaus trifft deutsche Caritas. Teegläser werden herumgereicht wie Friedenspfeifen. Man tauscht Höflichkeiten in einfachstem Deutsch.
Dann wenden sich die Männer aus der Opfergeneration, wie Soziologen sie getauft haben, einander zu und ihrem Lieblingsthema: den alten Migrantengeschichten, den Anekdoten aus der Schützengrabenzeit im Wirtschaftswunderland.
Ahmed, der jahrelang mit dem Kopfkissen unter den Füßen schlief, damit ihm die Fremde nicht zu süß werde, wie oft hat er das schon erzählt? Erst als er endlich seine Frau nachholen konnte nach Deutschland, kam das Kopfkissen an den Platz, an den es gehört.
Oder Arif, der ein ganzes Jahr lang die Briefe für seine Mutter nach Istanbul schickte. Der Freund dort adressierte sie neu und leitete sie weiter ins Dorf, denn die Mutter durfte nicht wissen, daß Arif sein Glück in Deutschland versuchte.
Viele Geschichten vom „ersten Mal“ gibt es aus dieser Zeit. Die erste Rolltreppe, der erste Supermarkt... Und nun also, am Ende des Lebens, für viele von ihnen der erste Ausflug in die grüne Umgebung der Stadt. Cahit betastet die Holzschindeln auf einem Winzerdach und bewundert die Handwerksarbeit. Wenn ihr wanderfreudiger Führer sie verschnaufen läßt, bestaunen alle die schnurgeraden Weinbergterrassen und die akkurat beschnittenen Reben. Daß alles viel ordentlicher sei als zu Hause, meinen sie. Die Bauern in der Heimat sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Und der viele Löwenzahn drüben im Ökoweinberg, der ist bestimmt auch zu etwas nutze. Nichts überlassen die Deutschen dem Zufall.
Vor einem Häuschen am Ahrufer bleiben alle andächtig stehen. Die zwanzig Zentimeter hohe Andeutung von Gartenzaun, Stauden und Rabatten in perfekter Anordnung... Ganz ähnlich sieht es aus, das eigene Häuschen am Marmara-Meer, sagt Arif. „Wenn ich mein Geld hier angelegt hätte, dann gehörte mir heute auch so ein Häuschen am Fluß“, meint Cahit nachdenklich. Die anderen gehen rasch weiter. Cahits Bemerkung führt auf vermintes Gelände.
Die typisch türkische Bewunderung für deutsche Tüchtigkeit, die viele von ihnen als junge Menschen in dieses Land führte, hat sie bis heute nicht verlassen. Genausowenig wie die Sehnsucht nach ein bißchen heimatlichem Chaos und Krach. Aber wenn Mehmet Kalaman Urlaub macht in seiner Eigentumswohnung in Istanbul, dann gehen ihm seine Landsleute doch auf die Nerven.
Ein Almanli ist er geworden, ein Deutschländer, ein Mensch zwischen allen Stühlen. Zufrieden mustert er das handgeschriebene Schild am Ziegenstall vor dem Winzerhaus: „Bitte leise. Die Ziegen brauchen Ruhe.“ In der Türkei, sagt er, müßte es solche Schilder für die Menschen geben. Überall dieser Krach, unerträglich. Und dann die Korruption. Ob du ein Telefon beantragen willst, einen Behördenstempel brauchst, Schmiergelder, Trinkgeld, ohne Bakschisch läuft gar nichts. Und dennoch: In zwei Jahren, spätestens in drei, da macht seine Frau Schluß mit der Änderungsschneiderei. Und dann... Die anderen Männer lachen. So reden sie auch immer. Seit zwanzig Jahren schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen