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Das Wanderherz Europas

■ Von „Auswanderung“ bis „Zwei Europa“: Eine lexikalische Reise durch wenig bekannte Gebiete und Begriffe

Srce Europe, das Herz Europas auf slowakisch, befindet sich in der Nähe eines Dorfes in der Slowakei. Ebenso im österreichischen Salzkammergut, in Slowenien, in Prag und nach allerletzten wissenschaftlichen Forschungen eine halbe Autostunde nördlich von Vilnius in Litauen. Ein Wanderherz sozusagen. Oder gibt es so viele verschiedene Europas? Jedenfalls umfaßt es mehr als die Brüsseler Eurofestung, mit der sich der österreichische Publizist Karl-Markus Gauß nicht so recht anfreunden will. Er schlägt sich beim Zusammentragen von Stichworten zu Europa oft durch wenig bekannte Gebiete. Etwa durch das ehemalige gJugoslawien, über dessen innere Verhältnisse hierzulande nach wie vor nur geringe Kenntnisse existieren. Dagegen polemisiert Gauß und liefert eine Art kurzen Lehrgang der zeitgenössischen jugoslawischen Geschichte. Mit Pfeilen wird dabei auf zugehörige andere Begriffe verwiesen, auf J wie gJugonostalgie, auf B wie gBalkan, auf N wie gNation und gNationalismus. So kann Gauß seine Interpretation zentraler Begriffe der europäischen Politik präzisieren. Zugleich ergibt sich durch die Vernetzung der Begriffe ein recht komplexer Text, gelegentlich garniert mit anekdotischen Merkwürdigkeiten wie unter gYmir: „In der altnordischen Mythologie war Ymir der Urriese, aus dem die Welt geschaffen wurde. Mein Vorschlag, die europäischen Geldgeschäfte daher mit ihm statt mit dem stillosen Euro zu tätigen ..., blieb in Brüssel ungehört.“

Alte Nationalstaaten, neue Kleinstaaterei

Ein schroff widersprüchliches Gelände betritt Gauß in der nationalen Frage. Er verweist auf die Selbstverständlichkeit, mit der die alten Nationalstaaten ihre Interessen mit durchaus nationalistischem Gestus zur Geltung bringen, während man allzuschnell alles, was Kleinstaaten, nationale Neuankömmlinge oder gar nationale Minderheiten an Interessen vorzubringen haben, mit dem Etikett Nationalismus versieht. Ohne Zweifel eine wichtige Relativierung, denn Kroation oder Belarus sind nicht die Wiege des europäischen Nationalismus. Doch hier bewegt sich Gauß in der Zwickmühle, die kleinen Nationen verstehen zu wollen, zugleich die Kleinstaaterei („Splitterismus“) mit dem „für den Kontinent insgesamt barbarisierenden Nationalismus“ abzulehnen, wie er auch die große Form, die europäische Integration, ablehnt, in der er nur ein etatistisches Unternehmen, einen „Großstaat“ sehen kann. Letztlich bleibt für den Problemkreis Nationalstaaten/europäische Staatenordnung die Empfehlung, „die Verbindung von Staat und Nation zu kappen“. Schön. Aber wie?

Aber das ist zugleich eine Stärke seines Buches: Ob man ihm zustimmt oder nicht, Gauß wirft Fragen in einer Weise auf, wie sie in der Flut an Eurogeschreibsel nie aufscheinen. Sie fordern zu Reibung und Auseinandersetzung geradezu heraus. Sein engagierter Stil und seine sprachliche Brillanz tragen zusätzlich bei, daß sein Alphabetisierungsversuch zur spannenden Lektüre wird. Balduin Winter

Karl-Markus Gauß: „Das Europäische Alphabet“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997. 208 Seiten, 34 DM

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