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Menschen als Umwelt

Das furiose Finale: Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ krönt ein dreißigjähriges Projekt zur systemischen Gesellschaftstheorie am Ende des zweiten Jahrtausends. Wer oder was aber ist die Gesellschaft?  ■ Von Peter Fuchs

Manchmal bilden sich soziale Mythen, manchmal wird ihnen durch die unmittelbar Betroffenen Vorschub geleistet. Niklas Luhmann versteht diese Kunst, wenn er zu Beginn seines neuen Buches „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ bekanntgibt, daß das Ergebnis eines auf dreißig Jahre angelegten Projektes zu vermelden sei, eben dieser Gesellschaftstheorie, zu der umfangreiche Werke wie „Soziale Systeme – Grundriß einer allgemeinen Theorie“ nur Präludien, nur Einleitungskapitel genannt zu werden verdienten. Der soziale Mythos markiert in gekonnter, in rhetorisch raffinierter Bescheidenheit ein furioses Finale, eine Summa, und in den Kreisen derjenigen, die auf Niklas Luhmann halten, die Erfüllung einer langen Erwartung, eines Versprechens, das in Aussicht stellte, die Soziologie dieses Jahrhunderts werde es noch zu einer konsistenten, zu einer einheitlichen Theorie der Gesellschaft bringen, dieses Haupt- und Königsfeldes der Soziologie, zu dem sich Worte genug eingestellt hätten, aber eben nicht: Begriffe.

Luhmann hat an diesen Begriffen nahezu drei Dekaden gearbeitet und sie alles andere als versteckt. Er hat sie in zahlreichen Büchern und Aufsätzen exponiert, und doch war es möglich, daß die Sektion Soziologische Theorie auf dem 27. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle (Saale) noch 1995 beim Thema „Modernisierungstheorie und sozialer Wandel in Europa“ die soziologische Systemtheorie nicht nur aussparte, sondern behaupten konnte, es gebe eigentlich nur die „gute alte Modernisierungstheorie“.

Ein echtes Lotte- in-Weimar-Syndrom

Man sieht es an diesem Beispiel, könnte es aber auch sehen an der bizarren Interaktionsgeschichte, die Luhmanns Lehren und Forschen in Bielefeld umrankte, ein Lotte-in-Weimar-Syndrom par excellence – die Zunft tat und tut sich schwer mit dieser Theorie, obwohl sie längst (jenseits der Aussparungen in der Soziologie und weit über deren Grenzen hinaus) eine intellektuelle Anregungswucht entwickelt hat, die nicht mehr bestritten werden kann.

„Die Gesellschaft der Gesellschaft“, dieses neue und voluminöse Buch Luhmanns, überbietet die Theoriebestände nicht durch Einführung neuer Begriffe, sondern durch ein konzises Arrangement, das die Bestände im Blick auf das durchmustert, was sie für eine Gesellschaftstheorie bedeuten, und zugleich auf das, was eine solche Theorie für die Gesellschaft, in die sie sich einschreibt, besagen kann. Es ist dieser Punkt, der das Buch wichtig (ja geradezu verpflichtend) macht für alle, die in der Gesellschaft über die Gesellschaft zu reden haben und dabei den Anspruch haben, nicht hinter das zurückzufallen, was am Ende des zweiten Jahrtausends kundig dazu geäußert werden kann. Der Umfang des Werkes allein zeigt, daß Luhmann in nicht asketischer Weise argumentiert, sondern einen Reichtum der historischen, semantischen, wissenschaftsgeschichtlichen Bezugnahmen entfaltet, der den Schlußsatz, es handle sich um skizzierte Überlegungen zur Gesellschaftstheorie, einordnet in den Duktus jener raffinierten und ironischen Bescheidenheit, die schon den Anfang kennzeichnet.

Bewußt erlebende Systeme

Was hat bislang verhindert, so fragt Luhmann, daß eine theoretisch fundierte, den komplexen modernen Verhältnissen angemessene Gesellschaftstheorie formuliert werden konnte? Die Antwort listet Erkenntnisblockaden (obstacles épistémologiques im Sinne Gaston Bachelards) auf. Eine davon ist die seltsame Vorstellung, Gesellschaft setze sich aus Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen zusammen.

Die zentrale Option der Systemtheorie ist die Unterscheidung von System und Umwelt, wie man weiß, das System also als Differenz, und wenn man, Luhmann folgend, von dieser Differenz ausgeht, eröffnet sich die Möglichkeit, Menschen (erlebende, bewußt erlebende Systeme) entweder dem sozialen System oder seiner Umwelt zuzuordnen. Ordnet man sie dem System zu, so wird sofort klar, daß dies allenfalls teilweise ginge: Fußnägel, Rückenwirbel, Herzen, Sonnengeflechte sind offenkundig nicht Teile des sozialen Systems, das ja ersichtlich nicht atmet, ausscheidet, schwitzt. Als Kandidat bliebe nur das Bewußtsein, von dem aber ebenso deutlich gilt, daß es sich selbst nicht externalisieren kann, und daß es genau dann, wenn es dies versucht, zum Beispiel spricht, in einem nichtprivaten Medium arbeitet, das nicht bewußt, sondern eindeutig sozial konstituiert ist. Das legt es nahe, Menschen in die Umwelt sozialer Systeme zu plazieren und in der Sphäre der Sozialität eine eigene und bewußtseinsfreie Operation zu identifizieren, Kommunikation nämlich, die ihre Ordnungsleistungen nicht ohne Bewußtsein in ihrer Umwelt erbringen kann, aber selbst nicht von Bewußtsein durchflutet wird.

Diese Einsicht (diese Entscheidung) macht den Weg dafür frei, Gesellschaft als ein räumliches (aber nicht über Territorien definiertes, sondern von außen beobachtbares) System zu begreifen. Sie ist der umfassende selbstreproduktive Zusammenhang von Kommunikationen, die Kommunikationen produzieren, die Kommunikationen produzieren, mithin ein autopoetisch geschlossenes System, in dessen Umwelt keine Kommunikation vorkommt und dessen Umwelt im System nur als Thema von Kommunikation erscheint: als Referenz auf Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit, aber nicht als eine in irgendeinem Sinne beobachtbare (ontische) Realität. Wenn sich das so verhält, dann begegnet sich die Gesellschaft selbst auf dieselbe Weise, als Referenz auf sie selbst in ihr selbst. Das hat unter anderem die faszinierende Konsequenz, daß sie sich nur in der Weise der Verkennung gegeben ist, in der Form von Imagination, und in der Moderne: als Pluralität von konkurrierenden Imaginationen (Selbstbeschreibungen) ihrer selbst in ihr selbst. Das rechtfertigt den eine Autologie anzeigenden Titel: die Gesellschaft der Gesellschaft.

Gesellschaft ist Weltgesellschaft

Gesellschaft jedenfalls als umfassendes Sozialsystem, als unüberschreitbarer Paramount aller sozialen Differenzierung, ist Weltgesellschaft, nach der „Vollentdeckung des Erdballs“. Es gibt klare Indizien dafür, zum Beispiel die Einführung einer einheitlichen Weltzeit, die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht etc., deren Grenzen nicht mehr durch Territorien festgelegt werden, die sich nicht mehr „lokalisieren“ lassen, die mit autonomen Operationen gleichsam pulsierende Reichweiten haben – kommunikative Reichweiten, die nicht identisch sind mit Räumen, die zu überbrücken wären. Evident wird die Rede von der Weltgesellschaft auch durch die Veränderung der Zeitsemantik, die sich umstellt von der Orientierung auf Vergangenheit auf die an der Zukunft, von Identität auf Kontingenz. Die Zukunft der Gesellschaft wird in der Weltgesellschaft entschieden. Weder in ökologischen noch in Humanitätsfragen, weder in wirtschaftlicher noch in technischer Hinsicht können „Lokalitäten“ gefunden oder konstruiert werden, die sich gegen den weltgesellschaftlichen Problemdruck isolieren ließen. Im Begriff der Weltgesellschaft wird zugleich mitgeführt, daß Welt als Zeichen der Unbestimmtheit fungiert, das heißt: als ganz unterschiedlich Bestimmbares, Beobachtbares, das nicht von außen noch einmal „richtig“ beobachtet wird.

Kann sich nicht als Einheit beobachten

Die moderne Gesellschaft kann sich nicht als Einheit (als Ding, als Identität) beobachten. Wer dies noch versucht, kann von anderen Beobachtern als Fundamentalist beobachtet werden, der (sei es terroristisch oder durch moralische Verachtung) seine Perspektive generalisiert, als sei die Welt der Gesellschaft zugriffsfähig. Die Gesellschaft ist aber sich selbst nicht erreichbar – auch nicht durch vermeintlich guten Willen, auch nicht durch die Referenz auf die Pathosformel „Menschheit“, die genau nicht deckungsgleich ist mit Gesellschaft.

Auf diesem mit reichem Material ausgekleideten Theoriehintergrund erscheinen bei Luhmann „Menschheitsfragen“ seltsam, aber instruktiv verändert, so etwa die Probleme, die unter dem Titel „Ökologie“ in der gesellschaftlichen Diskussion sind. Luhmann stellt zunächst einmal klar, daß die Operationen von Systemen kausal von Umweltbedingungen erreicht werden und umgekehrt selbst Umweltzustände ändern. Schließlich sind Systeme mit ihrer Umwelt strukturell gekoppelt. Das Problem ist dann, wieso die moderne Gesellschaft die Kommunikation über Umweltveränderungen, die durch sie ausgelöst werden, so sehr forciert, obwohl die Evolution immer „desaströse Rückwirkungen“ auf sich selbst ausgeübt habe und keine Gesellschaft jemals in der Lage war, mehr als nur ganz wenige ihrer Umweltauswirkungen zu kontrollieren. Die Antwort führt auf das Theoriestück funktionaler Differenzierung, also auf die Annahme, daß die moderne Gesellschaft gekennzeichnet sei durch eine Mehrheit autonomer, autopoetisch geschlossener Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Erziehung etc.), die alle universal und spezifisch zugleich sind – universal, weil sie von sich aus mit ihrer Codierung die Weltgesellschaft beobachten, spezifisch, weil sie es codiert tun. Die Wirtschaft unterscheidet Zahlung/ Nichtzahlung, dies genau und ausschließlich, aber dies auch als das einzige System, das dies tut, mithin exklusiv. Da dies für alle Funktionssysteme gilt, wird die Möglichkeit der Beobachtung und Thematisierung von Kausalitäten, die zwischen der Gesellschaft und der Umwelt laufen, wenn man so sagen darf, multiplexartig. Sie wird diversifiziert. Es gibt keine summarisch beobachtbaren Effekte struktureller Kopplung der Gesellschaft mit der Umwelt, keine dominante Kausalität, sondern eine Vielzahl von Kausalitäten, die je nach Funktionssystem verschieden zugerechnet und verschieden bearbeitet werden. Genau das schließt Bilanzierungen aus, und das ist dann wieder ein anderer Ausdruck dafür, daß keine korrekten Beobachtungen der Gesellschaft in der Gesellschaft vorgefunden werden können, allenfalls solche, die sich so beschreiben. Unter dieser Voraussetzung ist das Einklagen von Verantwortung illusorisch. Statt dessen könnte man davon ausgehen, daß die „Schlechtanpassung an die Umwelt“ keine evolutionäre Ausnahme darstellt und daß es deswegen eine offene Frage ist, wieso gerade diese Gesellschaft dieses Problem hyperventiliert. Es wird darauf ankommen, daß die Atemnot der Diskussion sich lindert, damit der Befund (der der einer Theorie ist) in Detailuntersuchungen an Grenzen der Systeme scharfgestellt werden kann.

Natürlich, und dies ist ein weiterer Punkt, werden ökologische Probleme typisch mit einer technotronen Gesellschaft zusammengeführt. Luhmann wehrt aber die Vorstellung ab, die moderne Gesellschaft sei technisch, sondern thematisiert Technik als evolutionäre Errungenschaft, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie als Konsenseinsparungsverfahren funktioniert. Konsensprobleme treten nicht auf, wenn es um die Unterscheidung von heil/kaputt oder läuft/läuft nicht geht. Die Evolution greift zu und strukturiert die darauf bezogene Rationalität. Nicht die Gesellschaft wird durch Technik beherrscht, sondern: die Gesellschaft macht sich abhängig von Technik, heute von riskanten Hochtechnologien, die durch Technik selbst nicht beherrscht werden können. Aber genau dann treffen die Merkmale von Technik (Prognostizierbarkeit der Effekte) nicht mehr zu, und die Frage ist dann, wie man sie dennoch sichern kann. Luhmann trägt dieser Lage Rechnung, wenn er Technik begreift als „funktionierende Simplifikation“, das jeweils die Welt im übrigen ausschließen können muß, als etwas strukturell Ignorantes, das dann funktioniert, wenn es gelingt, die ausgeschlossene sonstige Welt von Wirkungen auf das Funktionieren abzuhalten. Die Technik der Gegenwart muß dann Kontrollierbares und Unkontrollierbares unterscheiden. Wenn die Kontrolle gelingt, dann war die Ignoranz unschädlich.

Im Blick auf diese funktionierende Simplifikation kann man sagen, daß ihr Entzug oder ihr Zusammenbruch heute die Gesellschaft ruinieren oder jedenfalls in einen uns unbekannten Zustand versetzen würde. Denn mit der Technikentwicklung sind „zahllose nicht natürliche Selbstverständlichkeiten“ entstanden. „Wir gehen davon aus, daß das Wasser nachläuft, wenn wir die Toilettenspülung betätigen.“ Die Folge ist, daß mit der Zunahme technischer Optionen die Technik selbst nicht mehr zur Disposition steht. Die moderne Gesellschaft ist strukturell an Technik gekoppelt, und es ist nicht zu sehen, welche anderen Abstützmechanismen ersetzen könnten, was durch Technik zustande gekommen ist. Was man sehen kann, das ist, daß die Gesellschaft weder strukturell noch semantisch darauf vorbereitet war. Sie hat sich artifizielle Unverzichtbarkeiten geschaffen, die Effekte produzieren, von denen man nicht wissen kann, ob sie durch weitere artifizielle Unverzichtbarkeiten endlos bewältigt werden können.

Stupender Themenreichtum

Dies sind nur zwei flüchtig skizzierte Ausschnitte, die zeigen, wie die hier vorgelegte Gesellschaftstheorie Perspektiven verschiebt oder einführt, die inkongruent zu gängigen Vorstellungen stehen, aber gerade deshalb ein kaum zu überschätzendes Irritationspotential bergen. Auf ähnliche Weise spielt er Themen wie Rationalität, Werte und moralische Kommunikation, Evolution, Gedächtnis und Kultur, Globalisierung und Regionalisierung, Protestbewegungen, Natur und Semantik, Modernisierung, Risiko, Verbreitungsmedien, Sprache, Schrift, Buchdruck, elektronische Medien, Massenmedien und Postmoderne durch.

All dies und noch viel mehr wird in einem stupenden Reichtum der Verweise aufeinander bezogen unter der Führung einer Gesellschaftstheorie, die eben jene Komplexität erreicht, die zum Ende des zweiten Jahrtausends zu fordern war. Man wird sie, wenn man mitreden will, rezipieren müssen.

Niklas Luhmann: „Die Gesellschaft der Gesellschaft.“ Suhrkamp, 1997. 1.224 Seiten., 128DM

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