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Polizei: Graffiti-Szene wird überschätzt

■ Fast täglich werden jugendliche Sprayer festgenommen, doch verurteilt werden die wenigsten. Unter dem Druck der Verfolgung entstehen kaum noch Kunstwerke, sondern schnell hingeschmierte "tags"

Seit Anfang des Jahres gab es Hunderte von Festnahmen meist jugendlicher Sprayer. 95 Prozent der Erwischten werden beim erstenmal geschnappt. Mehrmals pro Woche heißt es dann lapidar im Polizeibericht: „Bei ihren Maßnahmen gegen Farbschmierer war die Polizei auch gestern erfolgreich und konnte vier Sprayer auf frischer Tat ertappen.“

Der Hintergrund der härteren Gangart ist offensichtlich: Der Senat drängt seit über einem Jahr, die „Verunstaltung“ durch Graffiti einzudämmen. Der CDU-Politiker Volker Liepelt sprach sogar von „optischem Terrorismus“. Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) trat mit dem Ziel an, den Sprühern Einhalt zu gebieten: „Das Erscheinungsbild unserer Stadt läßt zu wünschen übrig“, so die Innenverwaltung.

Als weitaus weniger problematisch wird die Sprayerszene jedoch nicht nur von der Opposition, sondern auch von Staatsanwälten, Richtern und sogar der eigens eingerichteten polizeilichen „Gemeinsamen Ermittlungsgruppe Graffiti“ eingeschätzt. Klaus Gäth, Leiter der Inspektion, bei der die 35köpfige Gemeinsame Ermittlungsgruppe angesiedelt ist, meint, daß die Szene nicht so groß und gefährlich sei, wie allgemein geschätzt. Er hält deren Bedeutung für „überbewertet“ und mahnt an, daß mancher Politiker und Polizeisprecher in bezug auf das Thema Graffiti „vorsichtiger mit der Sprache“ umgehen sollte. Das eigentliche Problem sind für ihn die „100 oder 200, die mehrfach in der Woche unterwegs sind“.

Daß es sich bei einem Großteil der Festgenommenen um Ersttäter handelt, bestätigt Justizsprecherin Corinna Bischoff: Etwa 95 Prozent würden beim erstenmal gefaßt und in der Regel auch nicht wieder auffällig werden. Im Zuge dessen würden „unheimlich viele“ Verfahren wieder eingestellt, teilweise wolle die Staatsanwaltschaft nicht einmal Anklage erheben. Kommt es doch zu Urteilen, so fallen diese in vielen Fällen relativ milde aus, oder es erfolgt eine Einigung auf eine Wiedergutmachung des entstandenen Schadens.

Auch die Umweltverwaltung, bei der die großangelegte „Aktion sauberes Berlin“, in die der „Kampf“ gegen Graffiti einbezogen wurde, koordiniert wird, äußert sich moderater als der Senat. Wir haben „nichts gegen Kunstvolles, aber gegen Schmierereien“ und Zerstörung, so deren Sprecher. Die Szene meint, daß die rigiden Maßnahmen der Polizei genau das Gegenteil bewirken: Durch die Kriminalisierung und Verfolgung „ist es viel weniger möglich, große geile Bilder zu machen“, sagt Bob (Name geändert). „Deshalb machen die Leute fast nur noch tags und schnelle Outlines“, die dann nicht als Kunst, sondern als „Schmiererei“ wahrgenommen würden. Eine derartige Entwicklung macht auch die Abgeordnetenhausfraktion der Bündnisgrünen aus und fordert in einem Antrag die Beendigung der Arbeit der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe Graffiti zum 31. Oktober.

Der PDS-Abgeordnete Freke Over kritisiert die Politik des Innensenators ebenfalls scharf. Die Polizeimaßnahmen seien „kontraproduktiv“, statt „die Kreativität der Leute zu fördern, werden sie kriminalisiert“.

Die Folge könnte sein, daß die Gerichte es in Zukunft nicht mehr mit 95 Prozent Ersttätern zu tun haben. Bob sagt: „Die meisten Sprayer reagieren nach dem Motto ,Dann erst recht‘ und werden sich nicht unterkriegen lassen.“

Auf die Frage, warum der Senat auf die repressive Schiene setzt und Graffiti eine Brisanz und Gefährlichkeit zuschreibt, die Richter, Staatsanwälte und Polizeiexperten nicht nachvollziehen können, weiß zumindest Freke Over eine Antwort. Er meint, daß „seit Monaten ein Bedrohungsszenario aufgebauscht wird“ und die Polizei deshalb auch „so viele festnehmen muß“. Bob sagt, es werde eine „Panikstimmung gemacht“. Vorwürfe, daß Graffiti Hand in Hand gingen mit Diebstahl oder dem Gebrauch harter Drogen, sind seiner Meinung nach völlig unberechtigt. Für beide, Freke Over und Bob, sind die Sprayer Opfer der neuen Hauptstadt. Tobias Singelnstein

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