: Fremde in der Heimat
Jungen Aussiedlern aus den GUS-Staaten fällt es schwer, in Deutschland Fuß zu fassen. Ausgrenzung ist Alltag, oft bietet nur die Clique Geborgenheit ■ Von Stephanie Risse
Die deutsche Jugendszene wird immer vielfältiger: Seit geraumer Zeit zählen auch junge Aussiedler aus den GUS-Staaten dazu. Diejenigen, die heute kommen, sind in einer völlig anderen Lage als ihre Vorgänger, die bis zum Ende der achtziger Jahre vor allem aus Polen und Rumänien eingereist sind. Dank ihrer größeren Sprach- und Kulturkenntnisse und der günstigeren Startbedingungen in der Bundesrepublik konnten diese schnell und unauffällig ihren Platz in der Gesellschaft finden. Die Aussiedlerjugendlichen von heute haben dagegen sehr viel schlechtere Chancen. Ihr deutscher Paß privilegiert sie zwar unter den Zuwanderern, ist aber kein Garantieschein mehr für eine erfolgreiche Integration.
Die jungen Neubürger sind deutsch und doch fremd: Sie sprechen fast nur russisch und sind in den postsowjetischen Gesellschaften Kasachstans, Rußlands und Mittelasiens aufgewachsen. Gerade die Aussiedlerjugendlichen der neunziger Jahre, die besonders auf Deutschkurse, Förderunterricht und psychosoziale Betreuung angewiesen wären, sind von der massiven Kürzung der Eingliederungshilfen seit 1993 betroffen. Eine Vernachlässigung dieser neuen Gruppe birgt sozialen Sprengstoff: In den vergangenen Jahren sind alleine aus der ehemaligen Sowjetunion über 1,6 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik gekommen, mindestens 35 Prozent der Zuwanderer sind bei der Einreise unter 20 Jahre alt.
In ihren Herkunftsländern zählten die Jugendlichen zur „Nach- Perestroika-Generation“. Als Kinder lebten sie noch im kommunistischen System, trugen das rote Halstuch der Pioniere, sangen die Internationale. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 wurden die alten Ideologien und Weltanschauungen plötzlich für wertlos erklärt. Ein neues Wertesystem existiert dort bis heute nicht, und die neuen Freiheiten können die meisten Jugendlichen nicht nutzen, denn sie haben dazu nicht die finanziellen Voraussetzungen: Die katastrophale wirtschaftliche Situation bestimmt den Lebensalltag ihrer Familien. Auch das Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise: Überall fehlen Unterrichtsmaterialien, und Lehrer müssen monatelang auf ihr Gehalt warten – Bedingungen, unter denen sie ihren Schülern kaum das Wissen vermitteln können, das diese für den Wandlungsprozeß in ihrer Gesellschaft rüstet. Um so schwerer fällt vielen Jugendlichen der Schritt in das bundesdeutsche Bildungssystem, auf das sie nicht vorbereitet sind.
Der jüngsten Generation der Rußlanddeutschen ist die russische Kultur näher als ihren Großeltern und Eltern, denen Elemente deutscher Kultur noch vertraut sind. Seit dem Krieg waren in der Sowjetunion deutsche Sprache und Kultur als „faschistisch“ diskriminiert und unterdrückt worden und hatten ihre Bedeutung im öffentlichen Leben so gut wie verloren. Trotzdem fühlen sich die meisten jungen Rußlanddeutschen der deutschen Minderheit zugehörig: Noch leben die Großeltern, die ihren Enkeln vom Trauma ihrer Deportation 1941 durch Stalin nach Sibirien oder Kasachstan erzählen. Dazu kommt, daß die Rußlanddeutschen durch den zunehmenden Nationalismus vor allem in Kasachstan und den neugegründeten Nationalstaaten Mittelasiens erneut unter Druck geraten: Im täglichen Umgang mit Nachbarn, Lehrern und Behörden werden sie als Deutsche wahrgenommen und teilweise ausgegrenzt.
Viele halten die Jugendlichen für eine „mitgenommene Generation“. Dieses Schlagwort stimmt so nicht. Denn es unterstellt den Jugendlichen, daß sie nicht ausreisen wollten und sich deshalb in eine passive Verweigerungshaltung begeben. Ergebnisse einer Interviewstudie der Forschungsgruppe „Migration“ am Osteuropa-Institut München belegen dagegen, daß die Mehrheit der befragten Jugendlichen (70 Prozent) die Ausreiseentscheidung ihrer Eltern unterstützt hat.
Die Perspektivlosigkeit in ihren Herkunftsländern und den Wunsch nach Familienzusammenführung nannten die Jugendlichen als wichtigste Ausreisegründe, für einen kleineren Teil spielten auch die zunehmenden ethnischen Konflikte eine Rolle. Doch ihre Erwartungen auf ein besseres und sichereres Leben in Deutschland werden immer öfter enttäuscht: Spätestens nach drei bis vier Jahren in einem Übergangswohnheim, in dem eine Familie ein Zimmer teilt, keine Arbeit findet und von der Sozialhilfe lebt, schlagen die Hoffnungen in Frust, immer öfter auch in Wut und Aggression um.
Innerhalb der letzten Jahre haben sich in manchen Städten und Gemeinden Ghettos gebildet, in denen viele Aussiedler leben. Dort sind Konflikte vorprogrammiert: Im Hannoveraner Stadtteil Vahrenheide kam es zu Straßenkämpfen zwischen deutschen, türkischen und rußlanddeutschen Jugendlichen, auf die die Stadt nur noch mit einem Notprogramm reagieren konnte. In der baden-württembergischen Kleinstadt Lahr sind nach Abzug der kanadischen Streitkräfte Wohnungen frei geworden, in denen jetzt Aussiedler wohnen, insgesamt fast 8.000. An einigen Schulen sind über 60 Prozent Aussiedlerkinder, die Stimmung in der Stadt ist gereizt. Der großen Eigeninitiative von Lehrern, Sozialarbeitern und Bürgern ist es zu verdanken, daß die Situation nicht weiter eskaliert – sie fühlen sich von der Regierung als Feuerwehrleute vor Ort alleingelassen.
Nur 13 Prozent der an der Jugendstudie des Osteuropa-Instituts beteiligten jungen Aussiedler denken, daß sie in Deutschland willkommen sind. Knapp 60 Prozent haben bereits erlebt, daß sie aufgrund ihrer Herkunft ablehnend behandelt worden sind. Freundeskreis und Clique bieten dagegen Sicherheit und Zusammenhalt gegen eine fremde Umwelt. In Diskotheken, Jugendklubs oder Straßenzügen entsteht eine rußlanddeutsche Jugendszene, die wiederum Teil einer rußlanddeutschen Infrastruktur ist, die die Aussiedler beispielsweise mit Dienstleistungen aller Art versorgt.
So ein Netzwerk kann hilfreich bei der Integration sein, kann aber auch die Isolierung und den Rückzug der Jugendlichen fördern. Auf jeden Fall ist es aber für sie von zentraler Bedeutung – genauso wie für alle Jugendlichen mit bikulturellem Hintergrund, daß ihre mitgebrachte Sprache und Kultur nicht abgewertet, sondern daß sie in Schule, Ausbildung und Jugendarbeit akzeptiert und auch einbezogen werden. Andererseits schaffen die Jugendlichen den Einstieg in Schule und Ausbildung nur, wenn sie gut deutsch sprechen und die nötigen Spielregeln kennen. Die Zahl der Aussiedlerjugendlichen, die einen schlechten oder gar keinen Schulabschluß erlangen und in der Konkurrenz um die knappen Ausbildungsplätze verlieren, nimmt zu. Hier formiert sich eine Risikogruppe, der das soziale Abseits droht: Wenn die Gesellschaft weiterhin berufliche Anerkennung und Status verweigert, bieten schon Jugendgangs oder Banden Ersatz. Die Schlägereien zwischen türkischen und rußlanddeutschen Jugendgruppen sind neu, ebenso die ethnisch motivierten Konfliktlinien: Diese sind nicht zu trennen von der sozialen Ausgrenzung gerade dieser Gruppen.
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