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Ruderboot mit Zahnstocher

Mit Sylvia Plath eiferte sie um die Wette: Ein Leben zum Selbstmord zwischen Wahn und Inszenierung. Die Briefe der Lyrikerin Anne Sexton  ■ Von Anke Westphal

Eigentlich hat das Leben es mit ihr nicht übel gemeint. Anne Sexton war eine internationale Berühmtheit, eine schöne, elegante Frau und Mutter zweier schöner Kinder. 1967 hatte die Lyrikerin für den Gedichtband „Live or Die“ den Pulitzerpreis erhalten; 1972 war sie zur ordentlichen Professorin an der Boston University ernannt worden. Sie hatte sehr gut verdient und 1973 eine schwierige Ehe aufgelöst. Die Kinder waren erwachsen. Am 4. Oktober 1974 setzte sie sich, im Pelzmantel ihrer Mutter und mit Perlenkette ganz Dame, in der Garage mit einem Drink ins Auto, schloß die Türen und ließ den Motor an.

Biographien von Selbstmördern wie Anne Sexton oder Sylvia Plath, auch solche von spektakulär ums Leben Gekommenen wie Maryse Holder, Joplin oder Morrison sind veritable Fallen. Würde ihr Nachlaß heute soviel Interesse wecken, wenn sie gemütlich alt geworden wären? Wo scheiden sich Genie und Wahn, wo öffentliche Verfügbarkeit der Biographie und Pietät? Die ersten beiden Fragen mögen sich im Fall Sexton nicht stellen, die letzte wohl: Die Edition ihrer Briefe innerhalb der auf vier Bände angelegten deutschen Werkausgabe probt einen aussichtslosen Spagat zwischen der Rückhaltlosigkeit gegenüber der Künstlerin Sexton und der Rücksichtnahme auf die noch lebenden Zeugen ihrer zahlreichen Krisen.

Anne Sexton hat nahezu alles aufgeschrieben und aufgehoben: Tagebücher, Notizbücher, Briefe an Geschäftspartner, Psychiater, Freunde und Familie, Zeugnisse, Urkunden, Tanzkarten, Poesiealben, Bilder, Einladungen. Linda Gray Sexton, Nachlaßverwalterin und eine der Töchter, stellte daraus das „Self-Portrait in Letters“ schon im Oktober 1974 zusammen, veröffentlichte es 1991 erneut und machte inzwischen aus den Erinnerungen an die schwierige Mutter ein Buch: „Searching for Mercy Street“ (demnächst bei rororo als „Auf der Suche nach meiner Mutter“).

Anne Sexton wurde 1928 in Newton, Massachusetts, geboren und verbrachte ihr ganzes Leben in oder um Boston herum. Ihr erstes Buch, „To Bedlam and Part Way Back“, erschien 1960 – nach vier Jahren Therapie. „Selbstportrait“ überspringt die Zeit von 1948 bis 1958 in einem riesigem, fast zehnjährigen Satz. Erst aus Briefen von 1958 erfährt man von Sextons erstem Suizidversuch im November 1956, der immerhin als ihre vollpsychiatrische Initiation gewertet werden muß.

In ärztlicher Behandlung war sie schon seit einer postnatalen Depression 1954. Ihre wohlhabende und einflußreiche Familie hatte eine überaus belastende Geschichte an Alkoholismus, Inzest und schweren Nervenzusammenbrüchen aufzuweisen. Annes Tante Fran erschoß sich; auch eine von Annes zwei Schwestern tötete sich selbst. Die geliebte Großtante Nana endete im Irrenhaus. Annes Vater, ein Trinker, unterzog sich 1950 einer Entziehungskur. Die Mutter wird als unberechenbar geschildert. Am Ende der 50er Jahre, in denen Frauen nach den Kriegsjahren wieder ins Heim und an den Herd zurückkehren sollten, verzeichneten Soziologen einen extremen Anstieg des Konsums von Beruhigungsmitteln, Schlafpillen und Antidepressiva und definierten das „Trapped Housewife Syndrom“.

Diese für Sextons Werk so wichtigen Fakten erfährt man in den Briefen eher ausschnittsweise. Deren Lektüre erfordert Ergänzung durch die Gedichte und durch die umfassende Biographie Diane Wood Middlebrooks („Zwischen Therapie und Tod. Das Leben der Dichterin Anne Sexton“).

Es wurde angenommen, daß Sylvia Plath aus Ehrgeiz schrieb, um eine berühmte Dichterin zu werden, während Anne Sexton die Lyrik benötigte, um von Tag zu Tag zu überleben. Sextons Briefe widersprechen dieser These. Schon früh plante sie ihre Karriere sehr bewußt. Sicher brauchte sie das Schreiben, um das in ihr wohnende Chaos – und die Angst davor – zu ordnen. Aber das Schreiben sollte ihr auch zu sozialem Erfolg verhelfen: „Ich hoffe, ich werde noch besser, und wenn ja, will ich hoch hinaus. Warum auch nicht“, schrieb sie Ende 1957, in einem ihrer instabilsten Jahre, an ihre Mutter. Deren Krebskrankheit benutzte sie bald – wie alles – als Material: „Ich fürchte, ich werde ein Gedicht darüber schreiben müssen, daß meine Mutter stirbt. Obwohl ich das nicht will, es ist so ein alltägliches, langweiliges Thema.“

Sorglos, unaufmerksam, „eine Schauspielerin“, unterhaltsam, aber auch unzuverlässig, so wird Anne Sexton in Middlebrooks Biographie von ihrer Schwester geschildert. Die frühen Briefe zeichnen ein weniger barmherziges Bild. Ehrgeizig diente Sexton sich berühmten Autoren an und bestürmte sie mit Briefen, die schwärmerisch zu nennen eine Untertreibung wäre. Sie brauchte Förderer, aber mehr noch brauchte sie Götter. Und wenn die – wie ihr Dichter-Idol W.D. Snodgrass – ihrer liebenden Überfälle müde waren und Distanz einlegten, verfiel sie in tiefe Schwermut und Panik. „Götter sind so notwendig und großartig und fern“, schrieb sie 1958 und bündelte in den drei Adjektiven einen Teil ihres Dilemmas. Kritik ertrug sie nicht, weder an ihrem Werk noch an ihrer Person: „Es ist, als würde man einen Sonnenbrand mit Sandpapier schmirgeln“, entgegnete sie, als sie ein Gedicht ändern sollte.

Anne Sexton und Sylvia Plath lernten sich im Lyrikkurs des Dichters Robert Lowell an der Universität Boston kennen. In „The Barfly ought to sing“ schrieb Sexton, daß sie, Plath und George Starbuck nach dem Unterricht gelegentlich die Bar des Ritz aufsuchten, wo sie, erlöst vom strengen Blick des „father“ Lowell, ihre Gedichte diskutierten. Man kann sich vorstellen, wie es dabei zuging. Anne Sexton war konkurrenzbewußt und nachtragend, wollte aber gleichzeitig geliebt werden. Sylvia Plath war fleißig, litt aber an der Zwangsvorstellung, faul zu sein, und konnte die erdrückende „I'm fine“-Maske eines fröhlichen, leistungsbereiten Amerika nicht abstreifen, während sie sich gleichzeitig von ihr erdrückt fühlte. Sexton und Plath führten lange Gespräche über ihre Suizidversuche, in denen sie sich gegenseitg die Details beschrieben.

In „Wanting to Die“ versuchte Sexton, die Todesbesessenheit zu erklären, die sie und Sylvia Plath verband und ihre Freundschaft exklusiv machte. Plaths Selbstmord im Februar 1963 traf sie schwer, nicht nur weil sie eine Seelenverwandte – von deren Sorgen sie im übrigen kaum etwas wußte – verloren hatte, sondern weil Plath es gewagt hatte, vor ihr zu sterben. Sexton fühlte sich betrogen. Sie hätten sich geschworen – so sagte sie ihrem Psychiater nach Plaths Tod – „es nicht zu tun, so wie man sich schwört, gemeinsam mit dem Rauchen aufzuhören“.

Plaths Selbstmord setzte Sexton unter Druck: sich spektakulärer umzubringen, berühmter zu werden. Es gibt in „Live or Die“ (1966) ein Gedicht „Sylvias Death“, das diese Enttäuschung ausspricht: „Thief! – how did you crowl into, crawl down alone / into the death I wanted so badly and for so long / the death we said we both outgrew / the one we wore on our skinny breasts“.

Sexton und Plath werden häufig als „Confessional Poets“ bezeichnet. In den USA ist das kein abwertendes Etikett, im Gegenteil. Doch es gefiel Sexton nicht, ebensowenig wie „das Dichterinnen-Etikett“ und das „Sexton-Lowell- Plath-Etikett“. Es war etwas Neues, was die „verrückten Hausfrauen“ Sexton und Plath in der Zeit zwischen Suez-Krise und Vietnamkrieg in der Lyrik etablierten: die „experience as a mother; as a mother who's had a nervous breakdown, as an extremely emotional and feeling young woman“. So formulierte es Sylvia Plath in einem BBC-Interview, als sie nach Sexton gefragt wurde, deren „wonderfully craftsmanlike poems, a kind of emotional and psychological depth“ Plath grenzenlos bewunderte. Neu waren Titel wie „Housewife“, „In Celebration of my Uterus“, „Abortion“, „Menstruation at Forty“ und „The Operation“. „Shocking“ war das lyrische Sprechen über Geburt und Tod, Menstruation, Masturbation, Inzest, Selbsthaß, Mutterhaß, Haß auf alles, Selbsttötung und Geschlechtsverkehr, und dementsprechend heftig wurde es attackiert.

Mit den Jahren kehrte so etwas wie Gelassenheit ein, mehren sich in den Briefen, unterbrochen von Berichten über wiederholte Suizidversuche, die Erfolgsmeldungen, Nachrichten von Stipendien, Reisen und Auftritten. Seit dem Sommer 1968 trat Anne Sexton mit ihrer Band „Her Kind“ auf, die sich nach einem von Sextons berühmtesten Gedichten benannte. Sexton mochte den amerikanischen Traum von der Suburbia-Familie nicht besonders lange; schon 1959 beschrieb sie sich als „heimlichen Beatnik“, der sich in der Vorstadt „in meinem spießigen Haus“ versteckt. Zwölf ihrer Gedichte bzw. Gedichtzyklen tragen das Wort „Tod“ oder „Tote“ im Titel. Sexton war in gewisser Weise stolz auf ihre Zusammenbrüche, die Todesbesessenheit. Sie fühlte sich dem Wahn einerseits schrecklich ausgeliefert und kokettierte andererseits mit ihm. Eine „Absolventin der Geisteskrankheiten“ nennt Sexton sich in „Double Image“, ihrem großen und ersten berühmten Gedicht, das die Fronten zur Mutter – und zur Mutterliebe – scharf absteckt. Sexton kultivierte ihr Schwierigsein, um es künstlerisch auszubeuten. „Dramatische Situationen“, so hielt sie fest, waren ihr „wirklich das Liebste von allem“. Gleichzeitig war ihre rücksichtslose Zerbrechlichkeit die einzige wirklich stabile Komponente ihres Lebens. „Ich versuche Kurs zu halten. Ich bewege mein Boot mit zahnstochergroßen Rudern vorwärts“, schrieb sie. Aber auch: „Ich neige zum Wahnsinn (was für eine Ausflucht, was für ein schlichter, unbedingter, künstlicher Glaube).“

So wurde Anne Sexton, hin- und hergerissen zwischen „Selbstinszenierung und Selbstaufgabe“, 46 Jahre alt. Sie wußte – und das ist vielleicht das Anrührendste, was man aus diesen Briefen mitnimmt – sehr wohl über sich Bescheid, kannte ihre Bestätigungssucht, ihren Neid, ihre Begabung und konnte die falschen Schuldgefühle analysieren, die ihr einflüsterten, ihrer Mutter Krebs gemacht zu haben. Am Ende hat es ihr nichts geholfen.

Anne Sexton: „Selbstportrait in Briefen“. Werke Band 3. Hrsg. von Elisabeth Bronfen. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1997, 463 Seiten, 48 DM

Diane Wood Middlebrook: „Zwischen Therapie und Tod. Das Leben der Dichterin Anne Sexton“. Arche Verlag, Zürich 1993, 603 Seiten, 72DM

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