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Alle Jahre wieder: Von Wuppertal-

■ Traditionell bringt der Ferienanfang Tausende von Familien auf die Piste. Dann verwandeln sich Europas Autobahnen in Hüpfburgen sollen angestaute Aggressionen vertreiben. In Nordrhein-Westfalen blieb der große Stau zwar aus. Dafür quollen

Wo der Stau sein werde? So ziemlich überall. So sagten vorher: alle Erfahrungen, der gesunde Menschenverstand und die geballte Sachkunde der ADAC- Stauprognostiker. Und wann? Freitag, 4. Juli. Ja, da werde es abgehen. Also mit dem Motorrad hinein in den Stau. Da ist man bei den Immobilen immer schön mobil. Startpunkt am Morgen ist Essen, mitten im Pott. Mitten im Urlaubsaufbruch?

Im autoreichsten Bundesland haben die Ferien begonnen. Anruf beim ADAC: Na, schon alles dicht? In der Münchner Zentrale heißt es, na, da wären wir besser an die Elbtunnelröhre gefahren oder an die Grenze bei Salzburg. Sehr komisch! Der Kölner Kollege ist in unserem Sinne optimistischer: Schon mittags sei der gesamte Ring um Köln und später der Großraum Aachen dicht. Holländer raus, Deutsche rein – und umgekehrt.

Schade, richtige Grenzen mit garantiertem Stillstand durch Zoll und Bundesgrenzschutz sind weitgehend abgeschafft. Aber schöne Baustellen gibt es immer. Gleich beim Breitscheider Kreuz, in beginnendem Zähfluß, ist das Cabrio ST-AU 233 vor uns. Wie selbstironisch! Oder zufällig? Klärungsbedarf! Also Visierklappe hoch, den Fahrer kollegial von der Seite anquatschen und rechts ran bitten. Er gehorcht. Der Mann, der den Stau immer dabei hat, stellt sich vor als Andreas Henne (wie das „Huhn“), Beruf: Soldat; genauer: Hubschrauberpilot; Rang: Major, stationiert in Rheine, Kreis Steinfurt. Daher das ST. Das A, grinst er, stehe eben für Andreas und das U für Ulrike, seine Frau. „Die Buchstaben hatte ich ausgesucht, aber das Wort Stau haben wir erst entdeckt, als das Schild dranhing. Und haben ziemlich gelacht.“ Das Nummernschild, sagt er, habe sich „nicht als schlechtes Omen herausgestellt“. Und als Hubschrauberpilot habe er „den staufreisten Verkehrsjob, den es gibt“. Jetzt aber weiter: Das A will zum U. Doch erst mal stehen die Wagen vor und neben ihm im still.

Oben auf der Brücke vor dem

Kreuz Kaiserberg schaut Eduard Ther, Chemiker, auf den Verkehr. Er hat keinen Wagen, „wegen Geld abgeschafft und aus Umweltschutzgründen“, sagt er. „Außerdem macht das im Ballungsraum Ruhrgebiet keinen Spaß.“ Ja, wenn alle so reden würden, kriegten wir nie wieder einen richtigen Stau.

Da ruft der WDR: Unfall, Vollsperrung Mönchengladbach-Ost, vier Kilometer Stau. Nix wie hin, Tempo 120. Gewitterwolken türmen sich zu grauendem Schwarz. Der Arsch tut weh, und der Stau ist weg. Immer wieder Ohr am Radio, Kontakt zur WDR-Hotline, zum ADAC. Die Stau-Dokumentaristen sprechen von fast fünfzig Kilometern rund um Köln. Und von der A4 bei Kerpen, „drei Kilometer in beiden Richtungen“. Nix wie hin, um zu sehen: Nichts ist.

An der Raststätte Frechen locken Plakate zum „Spaß an der Autobahn“ bei „Rast 'n Roll“ mit der Band „Sorgenbrecher“ an acht Terminen diesen Som-

mer bundesweit. Pistenparty mit Stauschunkeln? So ähnlich: „Ungewöhnliche Abwechslung“ verheißt der Veranstalter, wenn „längere Staus die flotte Urlaubsfahrt in bewegungsarme Langeweile verwandeln“.

Mitten im Heumarer Dreieck stehen zwei Wagen mit Hauben hoch, davor leuchtend gelb ein niederländischer Lkw. Der schwergewichtige Trucker spielt den gelben Engel: „Kenn' ich schon, die meisten haben Wasserprobleme, Kühlung kaputt.“ Mit Blaulicht naht die Polizei. Lautsprecher: „Haben Sie einen Unfall?“ Allgemeines Kopfschütteln. Der Bulle gibt Gas, ab durch die Schneise. Gleich danach kommt der nächste: „Machen Sie doch bitte den Weg frei.“ Die haben heute wohl nicht genug zu tun. Unser Motorrad steht im Weg, verhindert die gewünschte Gassenbildung. „Was soll das denn hier?“ mault der Bulle über Lautsprecher. Schnell wegschieben. Die Staatsgewalt grinst, schüttelt den Kopf, fährt vorbei, grüßt noch. Die sind so nett heute...

Die Pkws sind notversorgt. Richard Dijkman, der Trucker, erzählt vom Leben unterwegs. „Neugemachte Antiquitäten“, Holzstühle meist, schaffe er nach Itakilometerlange Standstreifen. Die Tank- und Rast-AG hat auf ihren Raststätten diesmal vorgesorgt. Flotte Rockkonzerte und diesmal die Züge über. Auf den Straßen war dennoch viel los

Von Bernd Müllender (Text) und Andreas Teichmann (Fotos)

lien, Telefonkabel nach Frankreich. 150.000 Kilometer macht das jedes Jahr, und das seit 16 Jahren. Rund 60 Erdumrundungen sind das umgerechnet. Stau-Erfahrungen? „Ach, normalerweise läuft das schon.“ Bei Ferienbeginn sei natürlich mehr los, dafür wären die Familienkutschen dann weg.

Ab Köln-Ost rollt es wieder. Wir drehen. Auf einem Parkplatz bei Leverkusen ist kaum was los. Vereinzelt streifen einzelne Männer umher. Sie wirken nervös. Urlaubsreif? Gelegentlich verschwinden welche im Gebüsch, Pisten- Klappe. Was so eine Autobahn alles zu bieten hat! Einer steht da ohne Benzin. Bittet uns, über Handy den ADAC anzurufen. Warum fragt er niemanden auf dem Parkplatz nach Sprit? Schulterzucken. Er sei doch im ADAC.

Weiter vorne parkt ein ältlicher BMW. Vater, Mutter, vier Kinder. Und noch ein Baby im Innern, auf dem Liegesitz Fahrerseite. Der Vater hockt mit Kanister am Vorderrad, lugt unter sein Gefährt. Ölverlust. Sorgenfalten. Sie verstehen kaum Deutsch. Ein Sohn kann passabel Englisch: Man sei die griechische Familie Giannouli auf dem Weg von Wuppertal-Elberfeld nach Thessaloniki. Alle zusammen, only one car, ein Auto. Zu siebt, bei geschätzt 48 Stunden Fahrtzeit. Ferien? Yes. Für wie lange? Zwei! Monate? Nein, weeks. Wochen. Vater lächelt, will weg, sein entschlossener Blick sagt: Der Motor werde schon dicht halten. Raphaela, das zweimonatige Baby, wird auf Mutters Arm genommen. Der Restnachwuchs verdrückt sich nach hinten. Tür zu. Lächeln, lachen, winken.

Warum ist selbst auf den Raststätten nichts los? Alle Voraussetzungen sind doch gegeben: Mittwochs war Schule aus, die meisten Eltern werden bis Freitag mittag gearbeitet haben, danach wurde alles gepackt und verstaut. So war es doch immer. Aber heute? Keine Kolonnen, keine Familien im Frust des Stop and no go, keine Quengelblagen: „Papaa, sind wir bald dahaa?“ Warum? Vielleicht, weil so viele Papas gar nichts zu arbeiten haben? Weil das Geld fehlt zum rituellen Wegfahren? Weil sich die Fahrten doch auf viele Tage verteilen? Oder sind die klassischen Familien längst alle geschieden? Soziologen, Freizeitanalytiker, klärt auf! Am Horizont, vom Düsseldorfer Flughafen, sieht man die Jets im Minutentakt aufsteigen. Mallorca-Shuttle. 51.000 Sonnenhungrige heben ab an diesem einen Tag. Rekord.

17.35 Uhr, Raststätte Ohligser Heide: Leere. Drüben eine VW- Bus-Ladung bekiffter und mit Aldi-Pils angetrunkener WesterwälderInnen. „Ey, wollt ihr auch zum Reggae-Festival nach Fühlingen? Ey, wißt ihr denn, wo das ist?“ Wir können leider nicht helfen. Sie uns auch nicht.

17.50 Uhr, Auftritt Susanne! Wir werden sie bis hoch zur Raststätte Bottrop-Süd begleiten, wo Fotograf Andreas noch im Winken sagen wird: „Mensch, die hätte ich bis wer weiß wo begleiten können!“ Susanne ist 36, aus Rheinbach nahe Bonn, Schwimmlehrerin und mit vier Männern unterwegs. Drei davon sind ihre Kinder: die Rotzlümmel Stefan, Tobias und Timo (8 bis 13). Der vierte ist Jürgen. Jürgen ist ein Fall für sich. „Nein, der Vater ist er nicht“, lacht Susanne, „der ist abgehauen vor einem Jahr.“ Timo ergänzt: „Mit der fetten Schnecke!“ Aha. Jürgen sagt dazu nichts. Jürgen sagt gar nichts. Jürgen zurrt die Bikes am klapprigen Gefährt fest.

„Dafür haben wir ihn mitgenommen“, erläutert Susanne, „im Fahrradbefestigen ist der echt gut.“ Jürgen fährt mit dem eigenen Pkw nebenher. Man habe sich hier auf dem Rastplatz getroffen, erläutert Susanne, knapp hundert Kilometer von zu Hause. Warum? „Weil, ja weil...“ – zu Hause hätte es vielleicht Stau gegeben, im Großraum Bonn. Jürgen ist aus Königswinter, andere Rheinseite. Susanne sagt, sie sei gut eineinhalb Stunden zu spät gekommen, ohne Stau. Deswegen sei Jürgen wohl etwas sauer.

Auf den nächsten sechzig Kilometern erzählt Susanne ihr Leben. Als die fette Schnecke, eigentlich Christiane, auftauchte, habe sie Papa erst eine Menage à trois et trois vorgeschlagen. Papa wollte nur die fette Schnecke. Als Strafe hat Susanne Ehemännes Ehering eingeschmolzen („zack, weg damit“) und Ohrschmuck daraus machen lassen. Motive zum Triathlon. Darum sei man ja auch unterwegs: Volkstriathlon im münsterländischen Stadtlohn. Schwimmen, Radeln, Laufen, das sei das ein und alles von allen vieren.

Und Jürgen? „Nett“ ist er, grinst Susanne im Kreuz Oberhausen. Und: Sie kenne ihn erst vier Wochen, möge ihn ziemlich, aber es sei noch eine Art Testphase, vielleicht werde sie ihn zum Partner küren. Vielleicht. „Mit drei Pänz hat man ja nicht so eine Auswahl.“ Die drei Pänz schweigen dazu. Nur soviel: Erst müsse Jürgen, der Nur- Schwimmer, noch Triathlet werden. Dann ist Susanne weg, und der Verkehr wird noch dünnflüssiger.

Am Abend bringen sie im Fernsehen die Ferienbeginn-Reportagen: freie Autobahnen, dafür vollgefüllte Bahnhöfe. Die Menschen scheinen vernünftig geworden zu sein. Jetzt aber quellen die Züge über, lange Verspätungen, Schienenstaus, Frust, Ärger über die Bahn. Das Ende vom Lied: Nächstes Jahr werden sie alle wieder auf die Piste gehen, in die Blechbüchsen steigen und den Urlaub auf gewohnte Weise beginnen: im Stau.

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