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Die Oder "rennt" durch Frankfurt. Viele Einwohner tun seit Tagen nichts anderes, als sich auf den Notfall vorzubereiten: Sandsäcke organisieren und füllen, Wohnungen sichern. Es schüttet, immer neue Verteidigungslinien werden eingerichtet.

Die Oder „rennt“ durch Frankfurt. Viele Einwohner tun seit Tagen nichts anderes, als sich auf den Notfall vorzubereiten: Sandsäcke organisieren und füllen, Wohnungen sichern. Es schüttet, immer neue Verteidigungslinien werden eingerichtet.

„Weil es hier schön ist“

Bei Thieses brennt noch Licht. Der Fernseher läuft. Das Radio ist eingeschaltet. Es ist halbdrei am Samstag morgen, und es schüttet in Frankfurt (Oder).

Corinna und Andreas Thies, das Hauswartsehepaar der Wohnanlage „Noacks Teich“, sitzen in ihrer neuen Vierraumwohnung und warten auf Meldungen. Die Kinder sind „evakuiert“. Schlafen mit der Oma in der Gartenlaube, draußen in Markendorf, am Stadtrand. „Wir wollten es nicht riskieren, die Kinder mit dem Schlauchboot wegbringen zu müssen“, sagt Andreas Thies. Einquartiert hat sich Annett Kaminski von der Hausverwaltung: „Die Hochwasserlage hat mir keine Ruhe gelassen.“

Erst im Mai ist die schmucke Wohnanlage „Noacks Teich“, mitten in der Stadt gelegen, eingeweiht worden – mit dem Werbeslogan „Nähe zur Oder“. 75 Wohnungen sind bezogen, zum größten Teil von älteren Leuten. Thieses und Annett Kaminski müssen nun für Ruhe sorgen. 150 Meter hinter der Wohnanlage „rennt“ die Oder.

In der Nacht von Freitag auf Samstag wurde in Frankfurt (Oder) mit der Überflutung gerechnet. Um 10.40 Uhr am Morgen war offiziell Katastrophenalarm ausgelöst worden. Im Laufe des Tages hatte sich die Lage entspannt. Der Pegelstand um Mitternacht: 5,89 Meter. „Die Lage ist recht stabil“, sagte Bürgermeister Ewert, der den Krisenstab leitet. Kritisch geworden wäre es bei einem Pegelstand von 6,30 Metern.

Thieses sind „fix und fertig“. Seit Tagen tun sie nichts anderes, als sich auf den Notfall vorzubereiten: Keller leerräumen, Kellerfenster mit Acryl dauerelastisch versiegeln, Eingänge mit Brettern verbarrikadieren, Hausmitteilungen verteilen, auf denen steht: „Keine Panik, sollte es Ihnen möglich sein, bei Verwandten eine Notunterkunft zu beziehen, empfehlen wir Ihnen, diese Möglichkeit zu nutzen.“ Schließlich den Teich inmitten der Anlage beobachten. Eineinhalb Meter ist das Wasser in den letzten Tagen angestiegen. Versunken sind die Lilien, die Äste der Spitzeiche klatschen auf die Wasseroberfläche. Und das Schwierigste, was Thieses hinkriegen mußten: Sandsäcke organisieren. „Wahrlich nicht einfach“, sagt die Hauswartsfrau. 2.000 Stück wären notwendig gewesen. Weil die nicht aufzutreiben waren, habe man sich mit Müllsäcken beholfen. Und nun latschen die Hochwassertouristen drüber, die mal sehen wollen, wie gefährlich das ist mit dem Wasser. Die ersten Säcke sind bereits geplatzt, und Hans Camin aus Hausnummer 7 sagt: „Ich könnte kotzen.“ Ganz „selbstverständlich“ habe er, wie fast alle Mieter, mitgeholfen, die Anlage abzusichern. Ein Gemeinschaftsgefühl sei entstanden, trotzt Christa Camin dem Hochwasser was Gutes ab. Lilli Urbasch aus Nummer 6 meint: „Man hat plötzlich die neuen Nachbarn kennengelernt.“

Samstag mittag, kurz nach elf. Es hat aufgehört zu regnen. Die Lage ist entspannt. In Frankfurt herrscht Flanierstimmung: Katastrophentouristen mit Fotoapparat und Videokamera, vor allem aus Berlin. Die Tankwarte melden Rekordumsätze. Die Stadtbrücke nach Slubice ist gesperrt, seit acht Uhr auch die Autobahnbrücke nach Polen. Es muß in Frankfurt (Oder) getankt und auch eingekauft werden. Spitzenumsätze vermelden die Pizzabäcker und die Gaststätten in Oder-Nähe. Beim Bahnhofsbäcker sind die Brötchen frühzeitig ausverkauft.

Ministerpräsident Stolpe (SPD) rennt die Oder-Promenade entlang. Vorbei am Restaurant „Kartoffelhaus“, das unter Wasser steht. Vorbei am Pegelhäuschen. Und dann auf die Stadtbrücke: ein Dankeschön an den Bundesgrenzschutz, an die vielen Helfer vom Technischen Hilfswerk, der Bundes- und der Feuerwehr sowie an die vielen Freiwilligen. Im Stolpe- Troß befindet sich Umweltminister Matthias Platzeck (SPD). „Es ist alles sehr gut organisiert. Wir sind für den Notfall gerüstet“, sagt er im Laufschritt. Freilich, Entwarnung will niemand geben. Stolpe meint: „Wir haben schwierige Tage vor uns, der Deich kann noch brechen.“ Bei Dauerregen ist zu befrüchten, daß die Deiche (167 Kilometer entlang der Oder) aufweichen. Rund 20 Sickerstellen wurden bereits ausgemacht. Bislang konnten diese mit Sandsäcken abgedichtet werden. Aber: Dauerregen ist gemeldet.

Camins sitzen im neueingerichteten Wohnzimmer und erzählen von einer befreundeten Familie, die sie davor gewarnt haben, in „Noacks Teich“, so unmittelbar in Flußnähe, zu ziehen. Sie haben es trotzdem gemacht und würden es „immer wieder tun, weil es hier sehr schön ist“. Gegen Naturgewalten, sagt Hans Camin, sei man nicht gefeit. „Das ist nun mal so.“ Ja, Sorgen habe er sich gemacht. Er ist rüber zur Oder gegangen, hat ein Bandmaß an der Oberkante der Kaihöhe angelegt und bis hinunter zur Wasseroberfläche gemessen. 1,70 Meter! Noch kein Grund zur Aufregung.

Für Lilli Urbasch schon. Kaum geschlafen hat sie in den vergangenen Tagen. Sie hat 20 Sandsäcke abgefüllt, um sie auszulegen auf dem Balkon. Aber ihr Mann meinte nur: „Lilli, sei nicht so ängstlich.“ Sie ist es nun mal. Sie hat die Bilder aus Polen und Tschechien im Fernsehen gesehen. Und die Meldungen von den Toten verfolgt. Jetzt, da das Fernsehen in „Noacks Teich“ ausgefallen ist, habe sie das Gefühl, „in einer Falle zu sitzen“. Sie müsse raus, sich informieren. „Brechen die Deiche?“

Dauerregen in Frankfurt. Pegelstand gestern nachmittag: 6,14 Meter. Eine neue Verteidigungslinie wird eingerichtet. Hinter den bereits gebauten Bergen aus Sandsäcken werden neue Berge geschaffen. Der Pegel steigt weiter. Jens Rübsam, Frankfurt (Oder)

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