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■ Eine Jahrhundertflut ist immer am schlimmsten, wenn sich das Wasser wieder zurückzieht. Nicht nur des Drecks wegen. Breslau und die benachbarten Dörfer im Südwesten Polens räumen auf - und rekapitulieren. Aus Breslau Andrea BöhmGegen Ode

Gegen Oder und Staat

Eine Jahrhundertflut beginnt sehr gemütlich. Man sitzt am Ufer der Oder auf der Terrasse der Stammkneipe, trinkt sein „Piast“-Bier und beobachtet, wie das Wasser friedlich steigt. Von der Treppe der Kaimauer sind nach dem ersten Bier noch fünf Stufen zu sehen, nach dem zweiten noch vier, nach dem dritten noch zwei ... Eine Jahrhundertflut kommt so beschaulich daher, daß Marian Dymalski und die meisten Breslauer bis zum Schluß nicht einmal die Möglichkeit nasser Füße ernsthaft in Betracht zogen. „Bis wir dann alle in einem Boot saßen“, sagt er, ohne daß ihn diese Metapher sonderlich aufheitern würde. Er hat seit diesem 13. Juli, als die Oder Polens viertgrößte Stadt in einen gigantischen Swimmingpool verwandelte, selten mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen.

Seitdem weiß er, daß Strommasten schwimmen können, Autos nicht. Daß rote Fahnen auf Dächern und in Fenstern keine politische Weltanschauung signalisieren, sondern die dringende Bitte, evakuiert zu werden. Daß vollgesogenes Holzparkett die Konturen einer Achterbahn annimmt und Wasser stärker als Beton ist. In der nagelneuen Tennishalle, die zum Sport- und Jugendzentrum des polnischen Hochschulsport-Verbandes gehört, dessen Vizepräsident Marian Dymalski ist, hat die Flut den Betonboden durchbrochen. In Dymalskis Wohnung in der Szprotawska Straße 39, Plattenbau, 1. Stock, drang sie durch Fenster- und Türritzen, durch den Keller. Ein paar Tage später kam er mit einem Schlauchboot vorbei, umkurvte die Antennenspitze seines Autos und legte im Hausflur an. Dann watete er durch das hüfthohe braune Wasser von Zimmer zu Zimmer und stellte fest, daß außer den Fußballpostern seines Sohnes Konrad, die über dem Pegelstand an den Wänden klebten, nicht viel zu retten war.

Eine Jahrhundertflut ist am schlimmsten, wenn das Wasser wieder zurückgeht. Was immer der Fluß wieder hergibt, stinkt, ist verfault, vermodert und mit einer grauen Schicht von Sedimenten überzogen. Breslaus Schrebergärten sehen aus, als wäre ein Ascheregen über sie niedergegangen. Die Philharmonie stand unter Wasser, ebenso das frisch renovierte „Teatr Polski“, Krankenhäuser, Kirchen, Druckereien, Behörden, Schulen, Geschäfte, Kinos, Teile des Hauptbahnhofs und das „Eroticland“ im Untergeschoß des Bahnhofsvorplatzes, aus dem Feuerwehrleute gerade das Wasser abpumpen — samt freischwimmender Pornohefte.

Auf den Hauptverkehrsstraßen, wo vor einigen Tagen noch Privatleute mit ihren Segelbooten Lebensmittel und Trinkwasser an eingeschlossene Bewohner austeilten, sind veritable Bodenwellen und Schlaglöcher entstanden. Ob Altbau oder Plattenbau — an den Fassaden ziehen sich schnurgerade Linien entlang, die anzeigen, wie hoch das Wasser in welcher Straße stand. Auf den Mittelstreifen reihen sich, ordentlich aufgehäuft, die Sperrmüllberge aneinander.

In der Szprotawska Straße 39 hat Marian Dymalski inzwischen Möbel und Teppiche aus der Wohnung geschafft, den Parkettboden herausreißen und Desinfektionsmittel versprühen lassen, das den Gestank von Fäkalien, Gas und Abfall vertreibt. Im Kinderzimmer liegen zwischen Konrads Knieschützern zwei getrocknete „Monopoly“-Scheine. Irgendwo auf dem Müllhaufen müssen Fotoalben, Bücher, Briefe, CDs gelandet sein. „Ein Stück Leben ist weggerissen“, sagt er und lächelt im nächsten Moment entschuldigend, als wolle er niemanden mit allzu dramatischen Beschreibungen behelligen. Denn eigentlich geht es ihm und seiner Familie ja noch gut. Im Unterschied zu den meisten anderen Flutopfern waren Auto und Wohnung versichert.

Breslau räumt auf — und rekapituliert. Beim täglichen Schlangestehen vor den Tankwagen, die rund 700.000 Einwohner mit Trinkwasser versorgen müssen, lassen die Bürger in erstaunlich würdevollem Gleichmut Revue passieren. Da waren die ersten Tage der Flut, als man faktisch ohne staatliche Hilfe einen Katastrophenschutz organisierte und ein mittleres Wunder vollbrachte: Die gerade restaurierte Altstadt mit ihrem Rathaus, der Bibliothek, den Handwerkshäusern und Kirchen aus dem 13. und 14. Jahrhundert blieb vom Wasser verschont, weil Tausende von freiwilligen Helfern tage- und nächtelang Sandsackbarrikaden aufgeschichtet hatten. Da war der Besoffene aus dem „Bermuda-Dreieck“, wie die Abrißhäuser der Alkoholiker und Abgestürzten an der Traugutta Straße genannt werden, der sich für die Fernsehkameras eine Krawatte umband und dann aus dem ersten Stock einen Kopfsprung in die Fluten machte. „Zalany“, sagen die Leute, was im polnischen zweierlei heißt: „betrunken“ und „überflutet“. Da waren Spekulanten, die mit Lebensmitteln und Trinkwasser ein Geschäft machen wollten, aber schnell von der Bevölkerung boykottiert wurden. Da ist der Erzbischof, der gesagt haben soll, die Flut sei Gottes Strafe für das neue liberalere Abtreibungsrecht. Da ist der Ministerpräsident, der nach den ersten Tagen der Flut erklärte, wer nicht versichert sei, habe selbst Schuld. Und da ist immer wieder die Frage, ob das Desaster für die Stadt gemindert oder gar verhindert worden wäre, hätte man in den Dörfern südlich von Breslau die Dämme gesprengt.

20 Kilometer vor Breslau bestellt Ryszard Pokutycki in der Dorfkneipe „Ewa“ sein Mittagsbier, um die Stimmbänder ein wenig zu ölen. Mit seiner Baseballmütze, den Stiefeln, den Tarnhosen und der ungebremsten Wut auf den Staat wirkt er wie das polnische Pendant zu jenen amerikanischen Bürgermilizionären, die sich mit Waffenarsenalen auf die Invasion schwarzer Regierungshubschrauber vorbereiten. Allerdings gibt es zwei kleine Unterschiede: Erstens fuchtelt der Autolackierer aus Kamieniec Wroclawksi nicht mit Gewehren herum, zweitens haben in seinem Dorf die Hubschrauber wirklich angegriffen. „Uns wollten sie absaufen lassen, um ihre Ärsche zu retten“, krächzt er. Nach zwei Wochen Dauereinsatz gegen den Fluß, das Militär und die Polizei ist er stockheiser.

Niemand weiß bis heute genau, wer auf die Idee kam, zum vermeintlichen Schutz der Stadt ein paar Dörfer zu fluten. Jedenfalls sahen die Einwohner von Kaminieniec Wroclawksi, Lany und Jeszkowice in den Morgenstunden des 13. Juli plötzlich Polizei auf den Dorfstraßen, die über Megaphon zur Evakuierung aufriefen, weil die Oder in den nächsten Stunden unweigerlich die Dörfer überschwemmen würde. Bloß hatten die Bewohner das Hochwasser längst vor der Haustür und waren ohne Hilfe irgendwelcher Behörden in den Tagen und Nächten zuvor damit fertig geworden.

„Die Bauern“, erzählt Pokutycki, „haben Sandsäcke organisiert, und alle haben ununterbrochen geschaufelt und gestapelt, um die Deiche zu verstärken.“ Die polizeiliche Fürsorge war schnell durchschaut, als über CB-Funk aus Jezkowice gemeldet wurde, daß Militär angerückt sei, um die Dämme zu sprengen. Binnen weniger Minuten waren die Dörfler auf ihren Deichen — und weder unter Androhung polizeilicher Prügel noch mit dem Versprechen finanzieller Entschädigung wegzubewegen.

Ein Hubschrauber setzte immer wieder zu Tiefflügen an und warf Tränengas ab. „Und wir“, sagt Pokutycki, „haben uns unter die Starkstromleitung gestellt. Da hat er uns nicht gekriegt.“ Ein, zwei Sprengladungen explodierten tatsächlich, doch die Bewohner stopften die Löcher sofort mit Sandsäcken wieder zu. Nach einem kurzen Krieg um die Deiche zogen Armee und Polizei unverrichteter Dinge wieder ab. Seitdem kampieren die Leute von Lany, Jezkowice und Kamieniec Wroclawski draußen, verständigen sich über Funk und mit Feuersirenen, falls ein zweiter Angriff kommen sollte.

Die Konsequenzen dieses Einsatzes hätten einige Tage später beinahe ein paar Soldaten aus Stettin ausbaden müssen, die abkommandiert worden waren, der Dorfbevölkerung gegen die zweite Flutwelle zu helfen. Die Leute empfingen die Uniformierten mit Steinen in der Hand, was letztere unverzüglich zum Rückzug veranlaßte. „Am besten, uns hilft niemand“, schnaubt Pokutycki. „Dann werden wir mit allen Problemen am besten fertig.“ Daß man sie in der Stadt und in einigen Medien bereits zu Treibgut und zu hilfsbedürftigen Flutopfern erklärt hat, wurmt ihn ungemein. Schließlich seien sie doch das „eindrucksvollste Beispiel“, wie man sich ohne Staat und Regierung, ja sogar gegen Staat und die Regierung, vor dem Hochwasser schützen kann.

Darüber sind sich Städter wie Dorfbewohner einig: Polens zentralistische Strukturen wurden schnell zum Bestandteil der Katastrophe, vor der der Staat seine Bürger schützen sollte. Das vorläufige Fazit der Jahrhundertflut in Polen: 55 Tote, rund 500.000 Hektar Land und 976 Orte unter Wasser; eine Armee, die viel zu spät und zu spärlich eingesetzt wurde; Sandsäcke und Wasserpumpen, deren Lieferung man in Warschau erbetteln mußte. Dazu kommen Sünden aus alten sozialistischen Zeiten: Die Plattenbausiedlung im Breslauer Stadtteil Kozanow zum Beispiel, die bis zu zwei Meter unter Wasser stand, hätte nie so dicht am Oder-Ufer gebaut werden dürfen. Über das finanzielle Ausmaß der Schäden in der Stadt kann seitens der Behörden derzeit niemand eine Auskunft geben. Auf die Frage nach Angaben in Mark, Dollars oder Zloty bekommt man nur ratlose Gesichter zu sehen, als ob man eine Zahl mit so vielen Stellen erst noch erfinden müßte. Immerhin: Die Straßenbahnen und Busse fahren wieder, Strom, Telefon und Müllabfuhr funktionieren wieder — und in der Altstadt trinkt man Bier aus Plastikbechern, solange kein Wasser zum Abwaschen da ist.

In den Dörfern, die beim Kampf gegen die Flut nicht so erfolgreich waren wie Kamieniec Wroclawksi, ist von einer solchen Normalisierung nichts zu merken. Da hat die Flut Hauswände aufgerissen, das Vieh ertränkt, die Ernte vernichtet. In Siechnice, rund 15 Kilometer von Breslau entfernt, steht das Wasser seit zwei Wochen. Aus den braunen Fluten der Oder ist längst eine stinkende, giftige grün- schwarze Brühe geworden, die Keller, Gärten, Wohnungen und Wiesen füllt. Wütend über ausbleibende Hilfe bauten die Bewohner am Donnerstag Barrikaden aus brennenden Reifen auf der Straße zwischen Breslau und Oppeln. Versichert ist hier keiner — und mit den umgerechnet 1.600 Mark, die die Regierung allen Hochwasseropfern auszahlen will, kann man an Neuanfang nicht denken.

Während dessen zieht die zweite Flutwelle durch die Dörfer und die Stadt. Bislang hat sie kaum weiteren Schaden angerichtet, doch für großen Jubel sind die Leute mittlerweile zu müde. Für Panikgefühle auch. Einzig in Kamieniec Wroclawski kann man sich den Tag nach der Jahrhundertflut vorstellen. „Wir machen ein Riesenfest“, sagt Ryszard Pokutycki. „Es gibt Tanz auf dem Deich.“

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