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Objektivität und Niedlichkeit

■ Die Unzulänglichkeit von Fakten, Fakten Fakten. Eine Ausstellung zur Geschichte des Kindergartens in der DDR

Kleine Knirpse toben durch die Räume des Dresdner Hygiene- Museums. Sie sind vier oder fünf Jahre alt, übermütig und äußerst mäßig interessiert am Gegenstand der heutigen „Vormittagsbeschäftigung“. Die ist eher was für ihre Aufsicht. Auf dem Plan steht „Erziehung“: „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ war ein DDR-Kinderlied und ist neuerdings auch Titel einer Ausstellung zur Geschichte der Kindergärten in der DDR.

„Glauben Sie, daß Sie Ihr Kind richtig erziehen?“ ist der Eingang zur Ausstellung betitelt. Die Kindergärten im östlichen Teil Deutschlands wurden mit Befehl der sowjetischen Militäradministration vom Juli 1945 der Volksbildung unterstellt und so erstmalig in der Geschichte ins Bildungssystem integriert.

Das Bildungssystem der DDR setzte die Gesellschaft als Maßstab der Erziehung und ordnete, besonders in den Anfängen, das Individuum dem Kollektiv unter. Ein Prinzip, daß zu Ende der sechziger Jahre mehr und mehr in Frage gestellt wurde – wenn auch inoffiziell. Symbole für deren Ziele im sozialistischen Kindergarten haben die Ausstellungsmacher schnell zur Hand: ein Beet hölzerner Tulpen, alle gleich groß und gleich gerade, wenn auch in verschiedenen Farben blühend – das Ideal allseitig entwickelter und harmonisch ausgebildeter sozialistischer Persönlichkeiten gleichsam illustrierend.

„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ fragt, ob kommunistische und sozialistische Traditionen der Erziehung nun „Erblast oder Mitgift“ waren, dokumentiert „Gesetzgebung und Erziehung“ und die Ausbildung von Kindergärtnerinnen, veranschaulicht den Tagesablauf im staatlichen Kindergarten, die Mitwirkung der Eltern und auch die Schwierigkeiten, mit denen konfessionelle Kindergärten zu kämpfen hatten.

Doch die Andeutung verschiedener Kontexte muß noch lange kein komplexes Bild ergeben. Das Kapitel „Erziehung in der DDR“ ist, wie es in einem Begleittext zur Ausstellung so treffend heißt, „sehr emotional besetzt“.

Da verlaufen die Fronten klar: Politik versus Einfühlung. Wer läßt die Grundlagen seines Lebens – und damit auch gleich sein ganzes Leben – schon gern als „schwere frühkindliche Deprivation“ (so der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz), als Defekt diagnostizieren, wenn er sich nicht krank fühlt?

„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ bedient sich in der Beschreibung des Kindergartenalltags und seiner sozialpolitischen, ideologischen und logistischen Grundlagen vor allem diverser Dokumente: Ausbildungsprotokolle, Urkunden, Gesetzblätter, Direktiven, Pläne – was wurde da mit Fleiß alles zusammengetragen. Als Folge liegt der Schwerpunkt einmal mehr auf der – ebenfalls rückprojizierten – offiziellen Geschichte.

Das Gefälle zwischen Dokumenten und Alltag, das jedes Leben letztendlich ausmacht und einmalig macht, wird dabei nicht sichtbar.

Obwohl man es ohne große Mühe hätte veranschaulichen können. Warum hat niemand ehemalige Kindergartenkinder gefragt? Das Plakat zur Ausstellung zeigt Kinder, die einer Mutter nicht gerade unfroh hinterherwinken. Zeit, es persönlich zu nehmen: Soweit ich mich erinnern kann, mußten wir tatsächlich nicht „schreiend in den Kindergarten gezerrt werden, um dort stundenweise Rotlichtbestrahlung [DDR-deutsch für politische Agitation] zu erfahren“, wie es eine unzweifelhaft ostdeutsche Besucherin verärgert ins Gästebuch des Museums schrieb. „Kindergarten war so wie gezeigt – und doch ganz anders“, ergänzte ein anderer Besucher.

Ein böses Lachen gilt Teilen des Katalogs. Da steht unter anderem, daß DDR- Kindheit „den Vergleich mit Kindheiten in westlichen Regionen, Ländern und Kulturen nach wie vor nicht scheuen muß“. So endet „Aufarbeitung“ in beweispflichtiger Rechtfertigung – ein Muster, nicht weniger repressiv, als der Kindergarten gewesen sein soll.

„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ bedient in der Verknüpfung von Objektivität (Dokumente) und Niedlichkeit (Spielzeug, Kinderfotos) alle negativen Klischees, die Wessis über die DDR nur hegen können: Jawohl, in den Kindergärten ging es zu wie überall in diesem totalitären System, autoritär, repressiv und straff zentralisiert. Achtzehn Kinder müssen einen Schneemann malen – wenn das nicht hart ist! Und Mütterlichkeit hätte im DDR-Kindergarten sowieso „wenig bis gar keinen Raum gehabt“. Wittgenstein war es, der sagte, daß man schweigen soll, worüber man nicht reden kann.

Und die andere Seite? DDR-sozialisierte Besucher finden im Hygiene-Museum vor allem eine Aufreihung von an der Oberfläche richtigen Fakten vor, die sie einerseits zur Genüge kennen und die sich andererseits mit persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen nur unzureichend decken werden. Die Geschichte des DDR-Kindergartens kann sich auch ganz anders lesen: Es wurde mit Holz- und Plastehämmerchen Schlosser oder Zimmermann gespielt und mit den Kleidern aus der Kiste hinter der Tür zum Gruppenraum Prinzessin. Im Kindergarten wurden Sprachstörungen dreimal pro Woche logopädisch behandelt, lernten meine Spielgefährten und ich in der zeitweisen Trennung von den Eltern, deren Arbeit zu begreifen und zu respektieren.

Der Aufarbeitung und Musealisierung von Geschichte sind Grenzen gesetzt. Am stärksten beschäftigt einen immer, was man vermißt. Heute geht „Mutti“ früh nur zur Arbeit, wenn sie welche hat. Ein weiterer schmerzlicher Nebeneffekt dieses Ausstellungsbummels ist die Steigerung der zweithäufigsten Ossi-Irritation: daß Kinder dem Staat BRD so unwillkommen sind und daß sie der DDR so willkommen waren. Wie ernst eine Gesellschaft ihre Kinder nimmt und wie sie mit ihnen umgeht, ist eine Kardinalfrage. Kleine Kinder kennen keine Ideologie, sondern Buntheit, Wärme und die Sehnsucht danach.

Im Kindergarten feierte man nicht nur den 1. Mai, sondern auch Fasching. Ostern und Weihnachten kam eben nicht nur Margot Honecker zu Besuch, sondern auch der Nikolaus. „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ ist ein überflüssiger Beitrag zu einer deutsch-deutschen Debatte, die – so absehbar wie bedauernswert – in Desinteresse und Vorurteilen steckengeblieben ist. Anke Westphal

„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht... Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR“. Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Lignerplatz 1. Geöffnet: Di., Do., Fr. 9–17 Uhr; Mi. 9–20.30 Uhr; Sa., So. 9–17 Uhr; montags geschlossen. Katalog 19,80 DM

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