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Das PortraitZwischen Nation und Revolte

■ Tilman Fichter

„Hier geht's lang“, sagt Tilman Fichter und zeigt nach rechts. „Geradeaus ist Schluß. Wenn'scht gerade läufst, und die Bullen sind hinter dir her, dann hab'n sie dich.“ Fichter lacht. Im Labyrinth der Berliner TU kennt er sich auch heute noch aus. Doch vor der Polizei läuft Fichter nicht mehr davon. Das hat nicht nur mit der Tatsache zu tun, daß er heute seinen sechzigsten Geburtstag feiert.

Unter den jungen Rebellen, die Mitte der sechziger Jahre den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bildeten, war er einer der am wenigsten jungen. Zu diesen Zeiten hatte Fichter bereits ein Vorleben: Er war als Seemann über die Meere gefahren. In Berlin habe er „ein halbes Jahrzehnt Revolte gemacht“. Und dann noch ein Jahrzehnt die Revolte aufgearbeitet. In Projekten an der FU Berlin hat er die Historie der Apo kritisch dokumentiert, Bücher ediert. „Ich wollte nicht, daß einmal die anderen unsere Geschichte schreiben“, erzählt er heute. Als 1982 Helmut Schmidt stürzte, machte Fichter einen ausgiebigen Spaziergang. Noch in derselben Nacht hatte er sein Beitrittsansuchen für die SPD ausgefüllt. Er lief unentschlossen von Briefkasten zu Briefkasten. Am Ende warf er das heikle Poststück ein.

Später machten ihn Willy Brandt und Peter Glotz zum Leiter der SPD-Parteischule. Doch Brandt war bald nicht mehr Parteivorsitzender, Glotz kein Geschäftsführer. Die Zeit der Enkel kam – und Fichter blieb einer, der „in seiner Partei gerne wider den Stachel löckt“. Seit einem Jahrzehnt treibt ihn die „nationale Frage“ um. Die deutsche Einheit verschlafen, die östliche Bürgerbewegung mißachtet, Europas Teilung akzeptiert – all das will Fichter der jungen Generation der SPD nicht nachsehen: „Die Spaltung Deutschlands konnte nicht die Antwort auf den Holocaust sein.“ In seinem Kampf hat sich Fichter zwischen einige Stühle gesetzt. Von linken Tugendwächtern muß er sich als Rechter beschimpfen, von der Jungen Freiheit loben lassen.

Fichter ist, was man gemeinhin liebevoll „eine Type“ nennt. Gerne läuft er mit Gehstock oder Regenschirm durch die Stadt, und auch nach mehr als 30 Berliner Jahren redet er noch sein beinahe unverfälschtes schwäbisches Idiom. Bisweilen trägt er auch ein verbeultes Hütchen am Kopf. So sei ihm hier, dem Anlaß entsprechend, zugerufen: Chapeau! Robert Misik

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