Von Krieg und Frieden in Malville

Granaten warfen französische Polizisten einst in die Menge der Demonstranten gegen den schnellen Brüter Superphönix. 20 Jahre später will die Regierung die Anlage stillegen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Malville – das war Krieg“, erinnern sich Teilnehmer der letzten wirklich großen Demonstration, die französische Atomgegner mit internationaler Unterstützung auf die Beine gestellt haben. An jenem 31. Juli 1977 kam der Physiklehrer Vital Michalon durch eine explosive Polizeigranate ums Leben. Andere Demonstranten gegen den schnellen Brüter verloren Hände und Beine. Hunderte wurden verletzt. Die Anti-Aufstand-Polizei CRS triumphierte. Die Anti- AKW-Bewegung, die 60.000 Menschen an den Bauplatz mobilisiert hatte, lag am Boden.

20 Jahre nach der blutigen Schlacht auf dem Bauplatz rufen die „Europeéns contre Superphénix“ heute erneut zu einer Demonstration nach Malville. Ein kleines Häufchen von ihnen traf bereits am Donnerstag vor den Toren des schnellen Brüters ein, um 48 Stunden lang zu fasten. Sie wollen an Vital Michalon erinnern, nachdenken und den „Druck zum Ausstieg aus der Brütertechnologie“ aufrechterhalten.

Dabei haben sich die Vorzeichen grundsätzlich geändert. Nicht etwa, weil der Superphönix zwischenzeitlich ans Netz gegangen ist. Das geschah schon 1986, dauerte aber wegen der zahlreichen Pannen nie lange. Das Neue ist, daß erstmals eine Regierung in Paris auf der Seite der Atomgegner steht. Der sozialistische Premierminister Lionel Jospin hat bei seiner Regierungsansprache im Juni erklärt, daß der Superphönix geschlossen wird und daß er am Jahresende Termin und Modalitäten für den Ausstieg aus dem teuersten Projekt der französischen und europäischen Atomindustrie bekanntgeben wird.

Euphorie ist bei den Malville- Gegnern dennoch nicht aufgekommen. Sie wissen, daß sie mit Umweltministerin Dominique Voynet, Chefin der französischen Grünen, eine verläßliche Vertreterin in Paris haben. Und sie glauben auch, daß der Premierminister persönlich für den Ausstieg ist. Aber auch die Atomlobby ist in der Regierung vertreten – in Person des Industrie- und Finanzministers Dominique Strauss-Kahn. Und den Mann kennen sie.

„1992“, erinnert sich der Anti- Superphönix-Veteran Michel Bernard, „haben wir schon einmal unseren Sieg gefeiert. Nachdem der damalige Premierminister angekündigt hatte, er wolle keine neue Betriebsgenehmigung für den Superphönix unterschreiben, ließen wir mit dem Druck nach.“ Strauss- Kahn, der damals Industrieminister war, suchte einen Ausweg und fand ihn in der Umwidmung des schnellen Brüters, der ursprünglich auch zur Stromproduktion gedacht war, in einen „Forschungsbrüter“. Und schaltete ihn 1994 wieder an.

Gegenwärtig steht der schnelle Brüter still. Aber seine Befürworter ruhen nicht. Kaum hatte die Regierung ihre Absicht erklärt, gründeten sie ein „Komitee für die Rettung des Superphönix“, das Mitglieder von konservativen Lokalpolitikern bis zu kommunistischen Gewerkschaftern hat. Sie wollen nicht nur die 900 Arbeitsplätze retten, sondern Frankreich vor dem „Rückfall in die Steinzeit“, vor den „Ölfunzeln“ und vor dem „Zwang zum Abschalten der Waschmaschinen“ bewahren. Rechts und links der Straßen rund um Malville haben sie Rettungstransparente für den Superphönix aufgestellt. Und seit Wochen kursieren in der Region Gerüchte, daß Strauss-Kahn den Superphönix wieder anschalten will. Die fastenden Gegner beschallen die Befürworter aus 2.000-Watt-Boxen mit Gitarrenmusik und Pro-Atom-Parolen. Die Stimmung in der örtlichen Bevölkerung ist gespalten: Arbeitsplätze und die Zulieferindustrie hängen am Brüter. Und die Subventionen für die Kommunen werden mit dem Superphönix verschwinden. Andererseits ist aber die offene Feindschaft gegen die Atomgegner geschwunden.

Wann genau der Umschwung kam, ist schwer zu sagen. Für viele Anwohner des Superphönix war es 1986, als der Unfall in Tschernobyl ihren Glauben an die absolute Sicherheit der Atomindustrie ins Schwanken brachte. Für den Veteran Michel Bernard markierte schon die Wahl des sozialistischen Präsidenten Mitterrand im Mai 1981 seine Rückkehr zur Anti- AKW-Bewegung. „Da hatte ich keine Angst mehr vor der Repression“, erinnert er sich. Am 31. Juli 1977 hatte er als 19jähriger ein „blutiges Stück“ auf dem Rücksitz eines abfahrenden Pkw gesehen. Erst am nächsten Tag erfuhr er, daß es sich dabei um das durch eine Polizeigranate abgerissene Bein eines anderen Demonstranten gehandelt hatte. In den fünf Folgejahren wechselte er die Straßenseite, wenn er Anti-AKW-Aktivisten traf. „Ich wollte einfach nichts mehr davon wissen“, sagt er, „ich hatte so ein Ohnmachtsgefühl.“

Die konservative Regierung in Paris hatte 1977 alle Mittel eingesetzt, um die mit jeder neuen Demonstration stärker werdende Anti-AKW-Bewegung zu schwächen. In den letzten Tagen vor der Demonstration warnte der örtliche Präfekt vor einer „neuen deutschen Invasion“. Die knüppelnden und Tränen- und Explosivgranaten werfenden CRS-Polizisten sollten sich als Vertreter Frankreichs fühlen.

Heute wird das anders sein. Zwei Mitglieder aus dem Umweltministerium wollen an der Anti- Superphönix-Demonstration teilnehmen. Gegendemonstrationen befürchten die Organisatoren nicht. Sie haben vorab mit der „anderen Seite“ diskutiert. Malville, 70 Kilometer nördlich von Lyon und ebensoweit westlich der Schweizer Grenze gelegen, wo vor 20 Jahren eine der blutigsten Demonstrationen der jüngeren französischen Geschichte stattfand, hat Chancen, zum Schauplatz des friedlichen Ausstiegs zu werden.