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Käsehäppchen im Magen des Jahrtausends

■ VIP-Raum sucht Small talk: Der Bürocontainer von Adam Page auf der documenta sagt dem erwählten Besucher, daß die Kunst auf ihn zählt

Aus einem schmalen Panoramafenster blicken wir auf einen Kunsttempel. Schwitzende Menschen eilen über den Platz und machen bedeutungsvolle Gesichter. Wo sind wir nur? Neben uns röchelt friedlich eine Kaffeemaschine, und unsere Gesprächspartnerin breitet gerade Dias ihrer neuen Werke auf einem Leuchttisch aus. Wäre da nicht diese Bank, auf der sich durch eine Öffnung in der Wand wie durch Geisterhand völlig Unbekannte von außen mit in den Raum geschoben hätten, wir würden an einen Geschäftstermin denken. Tatsächlich agieren wir mitten im documenta- X-Beitrag von Adam Page, in einem ausfaltbaren Bürocontainer. 100 Tage soll das Objekt des in Dresden lebenden Briten zu privat/öffentlicher Rast im hektischen Kunstkessel Kassel einladen.

Schon einmal hatte Page „öffentlichen Raum“ angemietet und als „Zwischenstation“ zur universellen zeitweiligen Nutzung angeboten. Am Beispiel einer ehemaligen Drogerie in einem Dresdner Stadtviertel thematisierte er die Misere des innerstädtischen Bauens und Sanierens besonders in den „Beitrittsgebieten“. In dem heruntergekommenen Gründerzeitgebäude befand sich seine „Zwischenstation“ an einer Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft. Wann würde sich das Damoklesschwert der Rekonstruktion senken? Würde der Laden eine neue Funktion bekommen: Wohnraum, Büro, Galerie, Atelier? Gemeinsam mit seiner Partnerin Eva Hertzsch provozierte Page eine lebhafte Debatte zwischen ArchitektInnen, KünstlerInnen und TheoretikerInnen um die widersprüchlichen Aufbauleistungen seit 1990. Die in den letzten Jahren besonders im Osten Deutschlands beängstigend gewachsene Diskrepanz zwischen fieberhaftem Bauen und innerem Anspruch, Bewahrungskultur und Innovation wird überwiegend widerstandslos hingenommen.

Page mahnt, sicherlich unbequem, die Verantwortung von KünstlerInnen gerade an diesem wunden Punkt des Urbanismus an. Dieser alles andere als kunstinterne Ansatz hat Catherine David 1996 nach einem zufälligen (sic!) Treffen am Rande des Festivals „Theater der Welt“ bewogen, „executive box“ und deren Betreiber zur documenta X einzuladen.

Den programmatischen Ansatz der Dresdner Arbeit besitzt die Dienstleistungsinstallation „Bürocontainer“ zwar nicht, dennoch eröffnet die Unterkunft mancherlei Möglichkeiten: erstens den distanzierten und kritischen Blick auf das künstlerische Käsehäppchen im Magen des Jahrtausends. Zweitens die ultimative Gelegenheit, sich zugehörig zu fühlen, denn ganz buchstäblich funktioniert „executive box“ als VIP-Raum. Mit unserer Buchung, schon wenn wir den Schlüssel im Informationscontainer abholen und die Kaution hinterlegen, werden wir zu außerordentlichen Personen erhoben und mit wichtigen Terminen geadelt. Konsequent interaktiv weist Page hier auf die Ironie einer Pseudowichtigkeit hin, die häufig vom prätentiösen Kunstbetrieb generiert wird. Ein dreidimensionales Modell, vorgestellt auf dem Dresdner Kunstmarkt, führte diesen Aspekt beeindruckend mit barbiepuppenhaften Protagonisten vor. Ein grinsender Typ mit Sonnenbrille und gelbem Walkman wird gerade aus dem „wirklichen Leben“ in die angestrengte Konferenz zweier Kreativer hineingeschoben. Da die Bank freilich nicht immer besetzt sein wird, besteht die echte Chance, den Ort zum Verweilen und Arbeiten zu nutzen. Regnet es, wird das Date leider platzen. Die Box, die sich erst durch die Nutzung und Öffnung entfalten und Pages Idee vertreten kann, hat kein Dach.

Um eine Stunde lang in den Genuß des Privilegs „executive box“ zu kommen, muß frühzeitig vorgebucht werden. Mit diesem Gratisangebot für Gespräche, kreatives Ausspannen und brisante Begegnungen stellt sich Page absichtsvoll in die Tradition von Joseph Beuys' „Rosen-Gesprächen“ (1972) und anderen Ideen („Atlantis-Geschenk 2000“, doc. IX), die das Vakuum Kunst einfach mal durchlüften wollen. Susanne Altmann

Buchungen bis 28. September unter (05 61) 70 72 70. Computersimulation und Info im Internet http://www.advis.de/kunst/page

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