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Spitzbart, Dickbauch, Brille

Die bisher fundierteste Abhandlung über den DDR-Sport widmet sich nicht nur der Theorie, sondern läßt auch Sportlerinnen und Sportler zu Wort kommen  ■ Von Matti Lieske

„Spitzbart, Dickbauch, Brille – das ist nicht Volkes Wille“, spottete die Bevölkerung der DDR in den 50er Jahren über SED-Chef Walter Ulbricht, und dieser war emsig bestrebt, den unsportlichen Eindruck, den er selbst erweckte, auf anderem Gebiet wettzumachen. Schon sehr früh war den Machthabern der neugeborenen DDR klar, welche Rolle der Sport bei der Entwicklung ihres sozialistischen Staates spielen könnte. „Es geht aber nicht allein darum, der Sportbewegung eine Breitenbasis zu geben“, postulierte Ulbricht, in seiner Jugend Barrenturner beim Leipziger Arbeiterturnverein „Eiche“, schon im Oktober 1949, dem Gründungsmonat der DDR, „man muß auch energisch daran gehen, die Leistungen unserer Spitzensportler auf internationale Höhe zu bringen. Dazu ist ernstes, gründliches und hartes Training erforderlich.“

Ein etwas jüngerer Genosse mit Namen Erich Honecker hatte schon ein Jahr vorher bei der Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS) präzisiert, welchem Ziel die Leibesertüchtigung zu dienen habe: „Jeder Versuch, die Sportbewegung außerhalb des gesellschaftlichen Geschehens zu stellen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir grenzen uns also ganz bewußt von den Theoretikern einer sogenannten unpolitischen Sportbewegung ab.“ 1952 wurde der 26jährige Manfred Ewald damit beauftragt, jenen Weg zu ebnen, der die DDR vom Status einer kleinen Sportprovinz mit einem fähigen Kugelstoßer und einer international chancenlosen Fußballmannschaft zu einer der erfolgreichsten Sportnationen der Welt führte. Schon 1953 konnte das Deutsche Sportecho voller Stolz Erstaunliches über die DDR-Athleten verbreiten: „Sie alle konnten ungehemmt von persönlichen Sorgen, angeleitet von den besten Trainern unserer Republik, ihr Training auf wissenschaftlich begründeten Trainingsplänen aufbauend, daran gehen, ihr Leistungsniveau zu erhöhen.“ Eine präzise Beschreibung des Sportsystems der DDR, unter Weglassung unerfreulicher Nebenerscheinungen wie Doping, Disziplinierung, Indoktrination und Überwachung, versteht sich.

Detailliert und exzellent recherchiert, zeichnet die 35jährige Autorin Grit Hartmann, als Kind selbst Schwimmerin im TZ (Trainingszentrum), in ihrem Buch „Goldkinder“ die Entstehung und Entwicklung dieses Systems nach. Sie legt die Beweggründe der SED-Funktionäre dar, schildert, unter Berücksichtigung zahlreicher Dokumente, den Aufbau der Sportorganisation, verfolgt akribisch die Groteske des kalten Sportkrieges zwischen BRD und DDR in den Zeiten gemeinsamer Olympiateams und endloser Dispute um Fahnen und Hymnen. Es folgte die Phase der großen Erfolge, beginnend mit den Olympischen Spielen 1972 im Lande des Klassenfeindes. Dargestellt werden das gründliche Auslese- und Ausbildungssystem ebenso wie die wissenschaftliche Arbeit in DHfK (Deutsche Hochschule für Körperkultur) und FKS (Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport). Insgesamt ergibt sich eine fakten- und anekdotenreiche Fundgrube des DDR-Sports. Grit Hartmann schreibt jedoch nicht nur, sie läßt auch schreiben: Das Duo Berendonk/Franke über Dopingpraktiken, Klaus Reinartz über Presselenkung, Giselher Spitzer über Stasi-Überwachung, Hans-Joachim Teichler über die wirtschaftliche Talfahrt gegen Ende der DDR und Heiner Humann über die Wendezeit.

Den spannendsten Teil des Buches bilden jedoch trotz aller Informationsfülle des übrigen Teils die eingestreuten Interviews mit bedeutenden Sportlern. Diese werden nicht einfach zu brisanten Punkten befragt, sondern die Interviewerin läßt sie ausführlich reden und abschweifen. So entstehen Mosaike aus persönlichen Erlebnissen, Wettkampfberichten, der Darstellung von Trainingsmethoden und der Schilderung des Verhältnisses zu Sportlern anderer Länder, das sich im Laufe der Jahre drastisch veränderte. Schon 1956, berichtet Boxer Wolfgang Behrendt, der erste von der DDR reklamierte Goldmedaillengewinner, hätten zwar westdeutsche Ruderer im Flugzeug nach Melbourne ihren „kommunistischen“ Mannschaftskameraden deutlich die kalte Schulter gezeigt, doch gab es immer noch Trainingsgemeinschaften und Freundschaften. Das änderte sich bald, die Atmosphäre wurde giftiger, die Politik bestimmender. Die Turnerin Erika Zuchold berichtet, wie sie vor Ausscheidungswettkämpfen in Wolfsburg zu Buhrufen vom Band trainiert hätte, und wie erschüttert sie war, als ihre tschechischen Freundinnen Vera Caslavska und Marika Krajcirova 1968 in Mexiko wegen des Einmarschs in Prag kein Wort mehr mit ihr wechselten.

Kontakte zum Klassenfeind waren verpönt. 1972 in München ignorierten DDR-Sportlerinnen sogar Bundespräsident Heinemann, der im Speisesaal an ihren Tisch kam und sich freundlich nach ihrem Befinden erkundigte.

Nicht alle hielten sich so akkurat an die Vorschriften der Funktionäre. Der unbequeme Vorzeigeschwimmer Roland Matthes etwa pflegte nach eigenem Bekunden freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen aus USA und BRD. Ausführlich erzählt er von seinen guten und unguten Erfahrungen in Ost und West, seiner mit sanfter Gewalt erzwungenen Karriereverlängerung und seiner Nachwendetätigkeit in den alten Ländern. Zu Wort kommen auch Kombinierer Ulrich Wehling, Diskuswerfer Wolfgang Schmidt und Behindertensportlerin Marianne Buggenhagen. Höhepunkt ist jedoch das Gespräch mit den Radsportlern Täve und Jan Schur, das sich rasch zum packenden verbalen Schlagabtausch zwischen Vater, größtes Idol und treuer Parteigänger des sozialistischen Sportsystems, und Sohn, differenzierter Kritiker desselben, entwickelt. „Klar, ich hab' dem Jan einen getöpferten Arsch mit Ohren geschickt“, räumt Täve in Erinnerung an den Übertritt seines Sprößlings zum Profilager ein. „Aber das war ein Spaß.“

Grit Hartmann: „Goldkinder – Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports“. Forum Verlag, Leipzig 1997, 352 Seiten, 39,80 DM, ISBN 3-931801-03-9

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