: Ausgekochtes Schlitzohr
■ Italien: Macht Tietmeyer zum Euro-Präsidenten
Italiens Ministerpräsident Romano Prodi ist ein Schlitzohr. Mit sanfter Stimme ist es ihm in 15 Monaten Regierungszeit gelungen, Italien vom Image politischer und wirtschaftlicher Unzuverlässigkeit zu befreien und zum Dreh- und Angelpunkt europäischer und internationaler Politik zu machen. Längst suchen US-Politiker und -Diplomaten vor Visiten in Deutschland oder Frankreich Rat in Rom. Chirac schließt sich öfter mit Prodi kurz als mit Kohl, und längst führen verfeindete Staaten der Dritten Welt Sondierungsgespräche in Rom und nicht mehr an UNO- oder EU-Plätzen.
Der Vorschlag Prodis in der Welt am Sonntag, Bundesbankchef Tietmeyer zum Chef der künftigen Europäischen Zentralbank zu machen, ist zweifellos ein neuer Höhepunkt der Prodischen Politik, Italien ins Zentrum zu rücken. Nicht nur, daß hier wieder einmal ein typisch italienisches Rezept zum Vorschein kommt – wenn du einen Kritiker nicht anders ruhigstellen kannst, binde ihn ein in dein Machtkartell. Der Vorschlag hat darüber hinaus den Vorteil, daß ihn die Angesprochenen weder ablehnen noch akzeptieren können. Helmut Kohl würde sich mit einer Ablehnung unglaubwürdig machen, da er stets eine harte Euro-Währung versprach. Er kann Tietmeyer, den Unbequemen, auch nicht kandidieren lassen, ohne den Eindruck zu erwecken, er wolle den Mann wegloben. Chirac jedoch würde mit einem Nein gleichermaßen die Maske fallen lassen, obgleich er sich den Bundesbankpräsidenten am wenigsten in dieser Stellung wünschen kann. Auch Tietmeyer selbst wird sich bei Prodi bedanken, denn all sein Ansehen nützt ihm nichts, wenn die EU ein politisches Kontrollgremium über die Bank stellen wird. Da der Vorschlag also weder abzulehnen noch zu realisieren ist, muß man erst mal verhandeln. Prodi wird sich ganz gewiß als „ehrlicher Makler“ anbieten.
Mit seiner Kandidatur zum Vermittler in der Europäischen Union stärkt Prodi seine Position und die seines Landes. Undenkbar, daß man Italien beim Start der Währungsunion außen vor lassen würde. Nicht unwahrscheinlich, daß Prodi sich zu guter Letzt das Doch- noch-Zustandekommen des Euro ans Revers heften kann. Ein Schachzug, so genial wie er eben nur von dem Schlitzohr Prodi kommen kann. Werner Raith
Bericht Seite 6
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