Übung der Ohnmacht

■ Die Kelly Family inszenierte ihm Weser-Stadion Familienleben

An der Nordseeküste, diddle diddle, nananana. Was für Refrains,

was für Songs. „Seid ich bei McDonalds esse, habe ich Pickel in der Fresse.“Was für Komik.

Die fantastischen Neun besuchten das Bremer Weserstadion. 41.000 Menschen zwischen drei Monaten (Kevin aus Sulingen) und 73 Jahren (Annegret aus Hannover) nahmen nach, während oder in Erinnerung ihrer schweren Kindheit (beziehungsweise als Erholung von den drömelig verstolperten Heimspielen des SV Werder) das relativ günstige Therapieangebot (Abendkasse: 30 Mark) an, einmal vom Rausch des „We are one family“-Slogans zu kosten. Die heile Familie: der neueste Hit. Wir hätten es ahnen können.

Schon während unseres lotterlebendigen Studentenlebens haben wir unter Anleitung der Professoren den „Tod der Familie“(David Cooper) gefeiert: der Familie, als Zwangskonzept bürgerlich- kapitalistischer Entmündigung und psychischer Deformation. Hinter solchen Worten verbargen wir uns fortan in offenen Beziehungskisten.

Aber wir hätten aufmerksam sein müssen. Nicht nur die deutschtümeligen Film- und TV-Produkte, die family values aus Hollywood auch die „Rama“- Reklame, von göttlichem Licht süßlich umflortes Familienfrühstück, zogen nicht mit. Das „Wir-Gefühl“der Kellys war ideal um ein generationsübergreifendes Popstarprodukt zu modellieren. Und so reden die Kellys dann auch:„Geld ist nicht wichtig, nur Geschwister zählen, die sind immer für dich da.“

Ach, der goldgelockte Angelo am Schlagzeug, die Blondine mit ihren wippenden Fettpolstern, die niedliche Perkussionistin im „Carmen“-Kostüm, die mähnige Männlichkeit der Jungs, alle winken und singen „every baby needs a papa, every baby needs a mama“. „Die sind so nett zueinander“oder „Ich als Einzelkind würde auch gern in so einer Gemeinschaft leben“ist im Publikum zu erfahren.

Da sind die Mädchen, die mit „Backstreet Boys“-Erotik noch nichts anfangen können, aber schon einmal bei „An Angel“üben, in Ohnmacht zu fallen; da sind die Präpubertierenden, die das letze Mal an Papas Arm sich schmiegen; da sind die Pickeligen, die schon einmal heimlich Techno gehört haben.

Kellys PR- Sprecherin Petra Huber über die verschwindent geringe männliche Präsenz im Publikum: „Mädchen sind anfälliger für Kelly-Life, Familienwerte. Die älteren Frauen und Teenies kommen meist aus sozial schwachen Elternhäusern, suchen das, was sie nie hatten: Familie.“Kein Wunder, daß gerade die Faninnenbusse aus Osterholz-Tenever besonders überfüllt wirkten.

Bei einer Messe hat die Musik zwar nur dienende Funktion, trotzdem wollen wir einmal genauer hinhören. Wie diese albatrossigen Bierzeltcombos verwursten die Kellys alles vom Schlager über den Pop zu scheuen Rapanleihen sowie Balladengedöhns und Volksmusik mit Irish flavour, obwohl die Kellys gar keine Iren sind, zu ein Viertel in Amerika, zu drei Viertel in Spanien geboren wurden und aufwuchsen. So kellysiert die Musikfamilie ihr Repertoire. Selbst ein Gospelsong wird da zur Schunkelnummer. Falsch singen heißt hier, natürlich singen. Aber professioneller sind sie geworden, gemessen an den Erinnerungen an ihr letztes umsonst und draußen Konzert auf dem Bremer Domshof. Riff- und Glamrockverweise bestimmen viele Songs.

Bei der neuen Single „Because it's love“wird taktelang Carol Kings „You've got a friend“plagiiert. Aber nicht der Song, sondern dessen Performance war das Ärgernis des Konzerts. Statt Zugaben zu erleben, mußte das Publikum diesen Song (nach endloser Wartezeit und Ostfriesenwitzen aus Kellymund) viermal nacheinander für Dreharbeiten vollplayback erdulden. Da war das zahlende Publikum nur noch Applauspöbel, nur noch feuerzeugschwenkendes Statistenheer für einen Videoclip mit „Leidenschaft“.

So konnte jeder sehen: Familie ist Show. Tod der Familie. Zurück in die Beziehungskisten. Oder nach Osterholz-Tenever. Jens Fischer