: Zweite Haut aus zweiter Hand
Von den Garderobenproblemen der Armen ■ Von Gabriele Goettle
Die Brosamen, die von den Tischen der Reichen fallen, zusammen mit denen, die in philantropischen Launen herabgefegt werden, ergeben einen derartigen Überfluß, daß zahlreiche Organisationen und Unternehmen, die sich professionell dem guten Zweck widmen, immer noch Milliarden daran verdienen können. In kaum einem anderen Land der Welt fallen in derart kurzer Zeit derart viele Altkleider an wie in Deutschland. Jeder Bürger mustert jährlich durchschnittlich zwanzig Kleidungsstücke aus, das ergibt eine Menge von rund 500.000 Tonnen.
Aber auch wer hierzulande an den Rändern der Gesellschaft existiert, kann, ohne als Bittsteller auftreten zu müssen, etwas nehmen vom Überfluß, zur Bemäntelung seiner defizitären Lebendlage. Jahrhundertelang waren die Körper der Marginalisierten schutzlos in Lumpen gehüllt, ihre Blößen waren schwärenbedeckt und boten, wie mit Stoff umfaßte Moulagen, Einblicke in die Beschaffenheit von Krankheit und Elend. Der ruinierte Körper war die Botschaft der Bettler vor den Kirchen. Defekte und offene Wunden wurden präsentiert statt verhüllt. Man wollte sie sehen, als Beweis der Bedürftigkeit und Voraussetzung für milde Gaben.
Heute geht der Arme, sofern er sich nicht anders entschließt, gut betucht durch die Stadt. Je nach Geschmack ähnelt er zum Verwechseln einem globetrottenden Rucksacktouristen, einem unauffälligen Arbeitnehmer oder einem Spaziergänger in Freizeitlook. Die Deprivation ist kaum sichtbar. Armut hat sich verkrochen, in die Körper hinein, in die Münder, Innereien, Gefäße und Gelenke. Und auch dorthin folgt ein bereitstehendes Serviceangebot, um den Schaden immer wieder zurückzudämmen und zu überspachteln. Wahrscheinlich gab es das nie zuvor in der Geschichte, daß die Bürger ihre Armen nicht erkennen, die mitten unter ihnen umhergehen, in ihrer eigenen abgelegten Kleidung, seriöse Bürger nachahmend, ohne Hohn und Spott. Deshalb muß ein Bettler, der vor der Sparkasse „Sitzung“ macht, auf entsprechende Arbeitskleidung zurückgreifen, deshalb tauchen in Fernseh- und Zeitungsberichten die Armen immer als malerisch verwilderte Berber und Bahnhofspenner auf. Unauffälligere Personen würden sehr an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Montags gegen halb elf Uhr versammelt sich auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg eine Gruppe von Leuten, die auf den Bus der Kleiderkammer warten. Die Parkanlage zu beiden Seiten der Oranienstraße ist gut besucht, auf den sonnigen Bänken sitzen junge Türkinnen mit ihren Kindern, die Unterschicht führt ihren Pitbull oder Schäferhundmischling Gassi, an den vorderen zwei Bänken haben sich die Säufer mit ihren Bierbüchsen postiert, und in der Höhe der Naunynstraße ist inzwischen der Bus vorgefahren. Während der Fahrer routiniert die Kleiderkartons auf der Parkbank aufstellt, öffnet ein Angetrunkener vor einer kleinen Zuschauermenge mit nichts als einer Nagelschere ein sehr massives Fahrradschloß und schließt es kichernd wieder.
Schon sind alle bei den Kartons und durchforsten das Angebot. Auch Horst und Angelika, die Suppenküchenbekanntschaft, sind da und füllen ihre Polentasche bedächtig. Ein älteres Alkoholikerpaar wählt T-Shirts in grellen Farben, ein untersetzter junger Mann mit schöner Brille und Swatch- Armbanduhr findet ein gelbes Polohemd von Lacoste und zupft erfreut am Krokodil. Im Schuhsack liegen ein paar Rollschuhe, angeschraubt an blaurote Schnürschuhe, mit denen irgendwann ein punkartiger Knabe davonfahren wird.
Als sich zwei alte Türkinnen mit Kopftüchern nähern, um nach kurzem Zögern Blusen und Hemden durchzuforsten, tritt eine der Beifahrerinnen heran und spricht ein paar barsche türkische Worte, die einen empörten Wortschwall der alten Frauen und das Ablassen von den Kleidern nach sich ziehen. Als sie gegangen sind, erklärt die türkische Beifahrerin erregt, die beiden hätten sie als Nutte bezeichnet und mit Rache gedroht, weil sie ihnen nicht erlauben wollte, Kleidung auszusuchen, dabei seien die beiden aus einer Familie, die drei Läden, ein Restaurant und ein halbes Haus hier im Viertel besitze.
Horst und Angelika haben ihre volle Tasche aufs Fahrrad geladen und verabschieden sich gut gelaunt, wir sollen doch mal vorbeikommen bei ihnen, in der Zossener Straße, nicht heute, da geht's nicht, aber vielleicht nächstes Mal. Einer aus der Säufergruppe kommt herangetaumelt, etwas verlegen greift er die erstbeste Jeans und geht mit ihr davon, ohne nachzuprüfen, ob sie paßt. Das tut er drüben, bei seinen Kumpels, geht ins Gebüsch und kommt wenig später mit der passenden frischen Hose unter Applaus hervor, verbeugt sich und nimmt einen Schluck. Nun tritt mit leicht tänzelndem Gang ein älterer, sehr dünner Langhaariger auf den Plan, blättert die Jeans durch und weiß bereits an der Breite der zusammengelegten Hose abzuschätzen, ob eine paßt oder nicht. Tatsächlich findet er eine, aber, statt wie gewünscht in Blau, eine in weißer Farbe. Dazu wählt er ein farbiges Seidenhemd, hält es sich vor und fragt mich, ob's gut aussieht. Ich sage: „Geschmackssache“, und er legt es mit einem geseufzten „Also nicht!“ zurück. Weitersuchend deutet er auf eine Lederjacke, die am Auto hängt, und sagt: „Die haben sie mir praktisch aufgedrängt, voriges Mal, weil ich der einzige Dünne war, aber ich hab' schon zwei zu Hause, das reicht. Bin ja froh, wenn ich nicht so viel Klamotten in meinem Schrank rumzuhängen habe. Manche nehmen ja Berge mit, die schleppen ab. Ich frage mich immer, was die wohl machen mit dem ganzen Zeug.“ Er sieht seitlich am Wagen einen schmalen Staubmantel hängen. Er nimmt ihn vom Bügel, es ist ein Burburry mit einem eingenähten Schildchen vom luxuriösen Herrenausstatter Seelbach am Kurfürstendamm. Wir lachen herzlich, es findet sich kein Stäubchen an dem edlen Stück.
Der langhaarige, etwas an Zappa erinnernde Freak zieht den Mantel über, dreht sich elegant. Er paßt wie angeschneidert. „Schade“, sagt er, „den hätte ich neulich schon haben müssen, als ich zum Gericht mußte. Man kann den Arschlöchern ja nur dankbar sein, daß sie ihr Zeug nach einmal Anziehen gleich wieder wegschmeißen. Was ich schon alles gefunden habe hier, die allerfeinsten Sachen und fast immer zur richtigen Zeit, wenn ich grade mal einen Termin wo hatte. Neulich, zum Beispiel, 'nen ganzen Anzug von Armani. Da in der Kiste war die Hose, dort, ganz unten drin, die Jacke. Normalerweise ziehe ich so was ja gar nicht an, Stoffhosen. Aber ich hatte Gerichtstermin, und da will man ja in jedem Fall einen guten Eindruck machen, weißte. Aber mit Schuhen war's schlecht, nur braune waren da, egal, ich hab' ein blaues Hemd dazu angezogen, Seidenkrawatte weinrot, auch von hier, Haare gewaschen, Pferdeschwanz ... ich kam mir vor wie Lagerfeld. Nägel geschnitten, alles vom Feinsten. Na, peinlich, hab' leider trotzdem den Termin versäumt, hab's irgendwie nicht rechtzeitig geschafft, leider. Aber nächstes Mal stehe ich pünktlich auf der Matte, das habe ich mir geschworen! Vielleicht ziehe ich dann die andere Luxusklamotte an, die ich habe. 'nen Anzug von Boss, feinste Schurwolle, graugrünlich ist der, sieht toll aus, ist mir aber ein Spürchen zu weit. Vielleicht geh' ich aber auch in Jeans und Jacke, mal sehen. Ich weiß nicht, wie die Leute das machen, ich brauch' in so einem Anzug doppelt so lang für alles. Vielleicht isses nur das Ungewohnte, und dann denke ich immer, ich trete bei jedem Schritt auf die Hosen unten, dann schau' ich runter, weil ja alles voll mit Scheiße liegt hier, aber soll ich die Hosenbeine hochkrempeln? Wie sieht denn das aus! Nun bin ich drauf gekommen, das sind Autofahrerklamotten, reine Autofahrerklamotten und für den Bürosessel. Bei angewinkelten Beinen sitzt alles perfekt. Was einem so alles entgeht, sagenhaft! Ich war ja achtundzwanzig Jahre auf der Nadel, weißte, jetzt muß ich jeden Tag zum Arzt, mein Methadon abholen. Seit ich clean bin, da fühle ich mich endlich wieder richtig als Mensch, ich war ja nur noch 'ne Ruine, völlig im Arsch! Trotz allem hatte ich ein Riesenglück, ich hab' mir kein Aids eingefangen, und weißte warum? Ich hab' lange mit 'nem Freund zusammengewohnt, die Mutter von dem hat bei einem Arzt gearbeitet, als Putzfrau, abends, die hat uns immer frische Spritzen und Nadeln mitgebracht. Aber sonst ging's mir ganz schlecht, gesundheitlich, ich bin ja so krank gewesen, das läßt sich gar nicht beschreiben, mit den Nieren war ich im Krankenhaus und wurde operiert, na und da hatte ich dann gleich meinen Entzug, unfreiwillig, da dachte ich mir, jetzt oder nie! Machste jetzt gleich Schluß damit, ein für allemal. Nun nehme ich nur noch mein Methadon, das brauche ich, aber nach 'ner Weile kann man sich da ganz vorsichtig rausschleichen, immer mehr reduzieren, dann bin ich frei!“ Er zieht ein braunes Medizinfläschchen aus der Hosentasche. Es trägt kein Etikett und ist dreiviertel voll mit einer klaren Flüssigkeit. Er hält das Fläschchen gegen das Licht, schüttelt es leicht, sagt: „Meine Dosis für heute“, und geht mit seinem Burburry über dem Arm pfeifend davon.
Später treffe ich vor der Kleiderkammer der Kirche einen Mann Mitte Vierzig, der einzig und allein dadurch auffällt, daß er hier wartet und wie er hier wartet. Zu dieser Zeit werden noch keine Kleider ausgegeben, er aber steht dicht bei der Tür, tritt von einem Bein aufs andere und macht ein Gesicht, als würde er die Hände ringen. Wir kommen ins Gespräch,
und er erzählt in Bayrisch und mit rollendem R, daß es ihm endlich gelungen sei, eine Arbeitsstelle zu finden in seinem Beruf, als Bauarbeiter, übermorgen müsse er anfangen, habe aber keinerlei Arbeitskleidung. Beim Amt sei er abgewiesen worden, er bekomme die Sachen auf der Baustelle, hieß es. Dort aber habe man ihm gesagt, er müsse für Schuhe, Hose, Jacke und gelbe Regenjacke selber sorgen, auf der Baustelle gebe es lediglich Helm und Handschuhe, zur Not auch den sogenannten Friesennerz, wie die gelben Regenjacken umgangssprachlich heißen. Nun war er schon bei Humana, dem Secondhandkaufhaus in der Karl- Marx-Allee, drüben im Osten, fand dort eine weiße Latzhose für zehn Mark und auch Schuhe mit Stahlkappen für fünfundzwanzig Mark, aber in Größe 44. Er seufzt auf und ruft aus: „Ich habe 46! 45er hätte ich ja vielleicht noch genommen zur Not, aber zwei Nummern kleiner, das ist zuviel, da ruiniere ich mir meine Füße. Mir ist schon alles scheißegal, am liebsten würde ich's hinschmeißen. Sie haben mich schon mal weggeschickt, ich hatte damals Winterkleidung beantragt, seit ich bei denen in Lichtenberg zuständig bin, muß ich um jede Kleinigkeit betteln, und dann geben sie doch nichts, grade mal, was sie unbedingt müssen. Dabei können sie froh sein, daß sie mich loswerden, ich habe mir die Arbeit selber gesucht, die dort rühren ja gar keinen Finger. Nee! Und die Kleidung mir ablehnen, die Mühe machen sie sich! Dabei ist das Vorschrift, Sicherheitsschuhe mit Stahlkappe, wenn ich meine Winterschuhe, sagen wir mal, anziehe und mir ein Eisenteil auf die Füße fällt, dann ist es aus, die Versicherung zahlt keinen Pfennig. Neu kosten die Schuhe um die achtzig Mark, ja ich hab' die nicht, die geben sie nicht, was also machen? Da sehn Sie's. Nun will ich mal in der Kleiderkammer oben anfragen, ob sie da festes Schuhwerk für mich haben, vielleicht noch 'ne Jacke, mal sehen, damit ich mich nicht gleich am ersten Tag zum Gespött machen muß und jeder gleich sieht, wo man herkommt.“ Es haben sich noch andere Wartende eingefunden, zwei alte Frauen, die etwas nach Stroh riechen, ein älterer Pole mit hellgrauen Augen, ein junger Tätowierter und seine Punkfreundin, die in einen langwährenden Zungenkuß vertieft sind.
Dann wird geöffnet. Es dürfen nur immer zwei eintreten, denn oben ist es eng. Bald kommt der Bayer wieder runter, über dem Arm eine dicke Cordhose, in der Hand ein paar derbe schwarze Lederstiefel. Er macht ein zufriedenes Gesicht und sagt: „Was anderes hatten sie nicht, das sind Russenstiefel, von den abgezogenen GUS-Truppen, ganz stabile Ware, muß man sagen“, er dreht sie um und deutet auf die Sohlen, „alles dickes Leder und paßt! Stahlkappen sind zwar keine drin, aber so falle ich wenigstens nicht auf den ersten Blick gleich auf.“ Wir stehen noch eine Weile draußen auf der Kirchentreppe, und er erzählt, daß er aus der Gegend von Regensburg kommt, seit fünfzehn Jahren in Berlin ist und seit kurzem mit seiner Frau in Lichtenberg, drüben im Osten wohnt. „Wissen Sie, wir müssen jeden Pfennig umdrehen, meine Frau ist krank, sie verläßt das Haus nicht. Vorher waren wir ja beim Sozialamt Tempelhof zuständig, bevor wir die Wohnung verloren haben, und da hat man uns gesagt, drüben in Lichtenberg ist was frei, im Neubau, mit Zentralheizung, das müssen wir nehmen. Wir konnten ja schlecht im Park bleiben, weiterhin, also haben wir zugegriffen, dachten, das ist ein Glücksfall, so einer kommt so schnell nimmermehr, aber, nix war's! Lieber wär'n wir im Park geblieben, wie dort in die Zuständigkeit zu kommen. An so was denkt man ja gar nicht, daß das nur so ein Trick ist, von den Amtshengsten, möglichst viele Leute rüberzuschieben in den Osten. Ich hör' das immer wieder, vorhin erst hat's einer gesagt, daß sie den Leuten Wohnungen, aber wirklich letzter Güte, ohne alles, drüben am Prenzlauer Berg geben, und schon sind sie zwei Fliegen mit einer Klappe losgeworden. Erst freut man sich, wenn man dann aber das erste Mal aufs Amt muß, vergeht die Freude gleich. Die sehn, du bist aus dem Westen, und dann machen sie das mit Fleiß, daß sie einen so richtig schlecht behandeln. Das ist wie damals bei der Paßkontrolle an der Grenze. Jetzt zeigen sie's uns aber mal richtig, wenn wir in ihrer Hand sind. Das ist jedesmal furchtbar, wenn ich wieder hin muß, mich melden oder so 'nen Antrag stellen, wo ich gleich weiß – das sehe ich regelrecht in dem Gesicht der Dame –, der wird mir abgelehnt. Das macht sie richtig genüßlich. Neulich hat sie gesagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, das hat doch der Dings, na ... da, der Gorbatschow zum Honecker gesagt, egal, ich jedenfalls war schon kurz nach acht vor der Tür, aber die brühen sich ja erst mal ihren Kaffee und alles, vor neun hört man nur Geschnatter und Gekicher in den Büros, und dann, wenn man endlich drankommt, muß ich mir sagen lassen, ich liege auf der faulen Haut. Woher will sie das überhaupt wissen? Ich hab fünfundzwanzig Jahre Schwerstarbeit auf meinem Buckel, die lesen ja nich mal die Akte, bilden sich ein Urteil, fertig. Und dann das Gemeinste, jetzt hab' ich endlich eine Arbeit, da lehnen sie mir die Arbeitskleidung ab. „Wenden Sie sich an Ihren Arbeitgeber, der ist für Schutzkleidung zuständig“, sagt sie, weil sie keine Ahnung hat, oder keine haben will. Das war vielleicht früher so, aber heute herrscht auf dem Bau doch das Chaos, da wird überhaupt nichts mehr eingehalten. Na, jetzt hab' ich mich ja selber gekümmert und Glück gehabt, das heißt ... ich hab' schon gedacht, ob ich mit den Russenstiefeln vielleicht von den Ossis ausgelacht werde? Unten in Bayern würde die ja kein Mensch erkennen, aber drüben im Osten? Ach scheißegal, von meinem ersten Lohn kauf' ich mir richtige Arbeitsschuhe. Und das nächste ist, daß ich umziehe mit meiner Frau, wieder rüber nach Westberlin. Sie können sich das Loch ruhig mal anschauen, in das sie uns da gesteckt haben, das können Sie meinetwegen schreiben, in Ihrer Zeitung, wie man die Menschen in ein Kammerl steckt und dann noch gut verdient daran. So, jetzt muß ich heim.“ Er schreibt mir in schülerhafter Schönschrift seine Adresse auf und sagt: „Morgen oder übermorgen bin ich ja noch da, fragen Sie einfach nach den Deutschen, wir sind die einzigen, alles andere sind Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien.“
Davon erzählt einem auch keiner was, daß in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit das Zu-Markte-Tragen der eigenen Haut auch noch ein Garderobenproblem ist. Daß an der Arbeitskleidung nicht nur der Schutz und Sicherheitsaspekt eine Rolle spielt, fiel mir schon vor einer Weile auf, als ich in einem Quelle- oder Neckermannkatalog blätterte, da wurden Arbeitshosen und Jacken „stone-washed“ präsentiert. Das ist absolut neu und sicherlich eine Marktlücke, denn so ein sichtbarer Verschleiß der Hose bedeutet ja, ihr Eigentümer hat tüchtig darin malocht. Die sozialpolitischen Erosionsprozesse hinterlassen im Alltag die eigenartigsten Spuren, und die sind echt.
Obgleich wir uns fest vorgenommen hatten, bei unseren Armutsrecherchen aufs Verteilen von milden Gaben strikt zu verzichten, was sich schon aufgrund der eigenen knappen Mittel sehr empfiehlt, weichen wir immer mal wieder ganz davon ab, so auch diesmal. Wie zufällig kamen uns im Baumarkt, bei der Suche nach Schrauben, Arbeitsschuhe mit Stahlkappen ins Blickfeld.
Am nächsten Tag fahren wir nach Lichtenberg. Die gesuchte Straße ist nördlich der Frankfurter Allee. Am Rande eines heruntergekommenen Altbauviertels liegt übergangslos eine große Plattenbauanlage. Die Gebäude sind ehemalige Arbeiterhotels für Baubrigaden, die man nach Berlin holte, um die Hauptstadt der DDR aufzubauen. Heute wirbelt hier der Wind schmutzige Plastiktüten auf. Vor dem Norma-Billigsupermarkt liegen zerbeulte umgekippte Einkaufswagen, und halbwüchsige Knaben in Bomberjacken lungern mit Bierbüchsen herum. Die Bürokraten haben anscheinend ein wirkliches Händchen für den Hautgout einer Gegend, wenn es darum geht, mißliebige Personengruppen unterzubringen. Nicht weit von hier war die ehemalige Stasizentrale, raucht die Müllverbrennungsanlage. Früher lag direkt gegenüber die städtische Erziehungsanstalt, und auf dem Gelände, auf dem nun die ausgedienten Arbeiterhotels stehen, lagen Fabriken zur Margarineherstellung und Häuteverwertung.
Der Platz zwischen den ehemaligen Arbeiterhotels wimmelt von Kindern aller Altersgruppen, die, spielend und beschienen von der Nachmittagssonne, sich ihres Lebens erfreuen. Dazwischen stehen mehrere kleine Grüppchen junger und älterer Frauen, und etwas abseits, im Schatten eines Vordaches, beobachtet eine Gruppe alter Männer das Treiben. Sie lassen Perlenkettchen durch ihre Finger gleiten und sind umschwirrt von einigen Buben, die beim Nähertreten höflich grüßen. Ich frage einen der Patriarchen nach den Deutschen, er versteht nicht, winkt einen der Buben herbei, und wenig später führt mich der Kleine einen verwinkelten Weg durch die Häuser, springt voraus, hält mir die Türen auf, führt mich vor eine Wohnungstür ohne Namensschild, ohne Klingel, winkt mir zu und springt davon.
Auf mein Klopfen ertönt von innen hektisches Hundegebell, die Tür öffnet sich, und der Bayer steht fassungslos da, mit einem vor Empörung röchelnden Pudel auf dem Arm: „Ja, das hätt' ich jetzt nicht gedacht, daß Sie wirklich kommen, treten Sie ein ... so, jetzt werd' ich Ihnen das mal zeigen, damit Sie sehen, daß ich nicht übertrieben habe.“ Ich reiche ihm die Tüte mit den Schuhen und sage: „Das hab' ich Ihnen mitgebracht, packen Sie's später aus, ich bleib' nur fünf Minuten, wenn ich darf, meine Freundin wartet vorn im Auto.“ Er stellt die Tüte im winzigen Flur ab, zu meiner Erleichterung, und sagt: „Ja, warum isse denn nicht mitgekommen, soll ich sie holen?“ Ich verneine, er versucht den bellenden Pudel zu beruhigen und öffnet eine Tür zu einem zellengroßen düsteren Kämmerchen, an dessen Stirnwand ein großer Farbfernseher läuft. An der rechten und linken Wand steht je ein schmales Bett, bedeckt mit einer billigen buntgemusterten Wolldecke, und damit ist die Möblierung bereits beschrieben. Mehr ginge auch gar nicht hinein in den Raum, nicht mal für ein Tischchen bleibt Platz zwischen den Betten. „Na, da sehen Sie's, wie wir hausen. Nehmen Sie Platz, meine Frau kommt gleich.“ Ich setze mich aufs Fußende des Bettes, unter dem daraufhin ein weiterer wütender Pudel hervorspringt, um sofort wieder knurrend zu verschwinden. Der Bayer kommt mit einer älteren, dunkelblonden, fast mageren Frau herein, sie trägt in der linken Hand eine große Bierbüchse, in der rechten einen wollig gelockten schwarzen Pudelwelpen. Der Bayer nimmt ihr die Bierbüchse ab und sagt: „Das ist meine Frau“, doch sie widerspricht und korrigiert: „Ich bin nicht seine Frau, Lebensgefährtin bin ich, wir können nicht heiraten, sonst verliere ich meine Witwenpension.“ Dann setzt sie sich neben mich und gibt mir den Welpen auf den Schoß, der sofort zu spielen beginnt. Der Bayer trinkt einen kräftigen Schluck, reicht die Büchse an die Frau weiter und fragt, ob ich auch ein Bier möchte. Ich lehne dankend ab, will mich verabschieden, aber die Frau sagt: „Nu bleibense mal noch fünf Minuten, wir hatten hier noch nie Besuch, der Mensch will sich ja auch mal unterhalten!“
Sie erzählt mir noch mal die Geschichte von der verlorenen Wohnung, der Obdachlosigkeit, des Einzugs hier und des Ämterwechsels. Dann sagt sie: „Und da sitzen wir nun drinne, wie in der Mausefalle, zwölf Quadratmeter, zwei Personen. Kein Fenster, nur den Lüftungsschlitz dort an der Decke, das war früher angeblich mal ein Teil der Wirtschaftsräume von 'ner Küche, das hat man dann später unterteilt, aber daß der Mensch auch mal raussehen möchte, wenn er kaputte Beine hat, das haben die nicht bedacht. Wir müssen sehen, daß wir so schnell wie möglich hier wieder rauskommen.“ Ich gebe ihr den aufsässigen Welpen, und der Bayer sagt beruhigend: „Wenn ich jetzt arbeite, dann wird alles wieder besser.“ Sie lacht auf und fügt hinzu: „Vor allem für die Staatskasse wird's besser. Er muß nämlich dann seinen Mietanteil selber zahlen, das Loch hier kostet 25 Mark pro Tag und Person. Andere Leute wohnen für 1.500 Mark warm in zwei Zimmern mit Bad und Balkon, oder? Nicht mal unsere Möbel haben wir behalten können. Hier ging ja nichts rein, außer dem Fernseher. Das müssen wir alles neu anschaffen.“
„Macht nix“, beruhigt der Bayer: „Hauptsache, ich hab' erst mal Arbeit. Lang genug hat's ja gedauert. Wissen Sie, ich versteh' das nicht, daß der Staat das mitmacht, diese ganzen Schweinereien von dem Baugewerbe. Wir haben hier in Berlin die größte Baustelle von Europa, sagen sie jeden Tag stolz, 380 Milliarden Mark werden da verbaut, und trotzdem ist jeder vierte oder sogar dritte Bauarbeiter hier arbeitslos. Ja, da brauch' ich doch gar keine Statistik und nix ... über 50.000 Illegale, sagen sie im Fernsehen. Und die Legalen, von überall her, die sie mit Werkverträgen mitbringen, zu den Billiglöhnen, die in den Heimatländern der ganzen Ausländer gezahlt werden? Da redet keiner was, von denen. Und von den Russen ist auch nichts zu hören, die für 1,95 die Stunde jede Schwerarbeit machen! Die hausen in Containern, direkt auf den Baustellen. Das kann mir keiner erzählen, daß das alles nicht von oben her gedeckt wird, und die paar Kontrollen, die sie mal machen, da nehmen sie zehn ohne Papiere mit, und meistens kriegt die Baufirma nicht mal 'ne Strafe.“
Die Frau wirft ein: „Laß die mal machen, das geht dich nichts an, wenn du die Arbeit behalten willst, dann mußt du deine Schnauze halten! Zweiundzwanzig Mark die Stunde, das ist doch nicht schlecht?“ Er sagt ärgerlich: „Darum geht's nicht, ich red' ja hier privat, außerdem ist das unter Tarif, sonst hätten sie mich ja auch gar nicht genommen. Aber die können es mit uns machen, wie sie wollen. Wir nehmen die Arbeit, bevor sie ein anderer uns für den halben Lohn wegschnappt, und der nimmt sie, weil sie sonst einer für 1,95 macht. Ach, das ist ein Scheißleben, so ohne Geld und alles! Und die auf dem Amt spielen sich auf, lehnen einem die Anträge ab, mit Gründlichkeit und Strenge, sagen sie, aber selber halten sie sich nicht dran, an ihre Verpflichtungen. Ich hab' mal einen Kostenübernahmeschein bewilligt bekommen, ja, für Winterkleidung, und im Kaufhaus haben sie dann, als ich schon alles zusammenhatte, den Kostenübernahmeschein abgelehnt, weil die Rechnungen von Lichtenberg nicht bezahlt worden waren. Da steht man dann da wie ein Idiot, so was ist peinlich. Ich hab' dann alles liegen gelassen und bin gegangen.“ Sie fügt hinzu: „Am nächsten Tag isser dann hin und hat alles eingekauft und das Geld von seiner Sozialhilfe ausgelegt.“ – „Und die Abschnitte“, ergänzt er, „hab' ich dann eingereicht, da haben sie's mir natürlich bezahlt. Aber ich mußte insgesamt dreimal gehen wegen den Anziehsachen, ein normaler Mensch kann das gar nicht nachvollziehen. Dann sagen sie einem, wir müssen sparen, sparen, sparen, der Staat muß den Gürtel enger schnallen, Soll er mal, aber nich an meiner Hose! Ausgerechnet, wir leben schon bescheiden genug, Sie sehn es ja. Na, machen Sie mir einen Sparvorschlag!“
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