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Suche nach einem verlorenen Ich

Timothy Garton Ash erzählt in „Die Akte Romeo“ von Tätern und Mittätern, von Gedächtnis und Erinnern. Er macht deutlich, woran es den Deutschen beim Umgang mit der DDR-Vergangenheit mangelt: an Neugier und Verständnis  ■ Von Jens König

Klaus Risse ist ein sympathischer Mann. Geboren 1938 in der Nähe von Dresden, sein Vater 1944 an der Front gefallen. Seine Mutter, eine Landarbeiterin, mußte die Kinder allein durchbringen. Klaus zeigte in der Volksschule gute Leistungen und bekam in der DDR ein Stipendium, damit er sein Abitur machen konnte. Mit 18 mußte er sich entscheiden. Er wollte Fischwirtschaft studieren. Doch er wurde gefragt, ob er für den Staat, der soviel für ihn getan hatte, nicht auch etwas tun wolle. Also ging Klaus Risse zur Staatssicherheit, Abteilung Spionageabwehr. Von 1978 bis 1983 war er dort Referatsleiter, zuständig für Großbritannien. Einer seiner „Fälle“: Timothy Garton Ash.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash trifft den ehemaligen Stasimajor Klaus Risse 1995 in Dresden. Ihn treibt die Neugier. Wie kamen die Stasioffiziere zu ihren Posten? Was sahen sie in den Ermittlungen gegen ihn? Garton Ash schildert die Begegnung in seinem Buch sehr genau: Risses Leben in der DDR, seine Arbeit bei der Stasi, seine wachsende politische Ernüchterung (die Garton Ash ihm nicht glaubt) und den Verlust seiner Illusionen nach 1989. Der ehemalige Stasimajor verkauft heute Lüftungssysteme für Restaurants. Als Garton Ash nach dem Gespräch in sein Hotelzimmer zurückgeht, um sich seine Notizen aufzuschreiben, formt sich, wie er selbst sagt, in seinem Kopf ein überraschender Satz: „Klaus Risse ist ein guter Mensch.“ Er könnte auch heißen: „Klaus Risse, ein ehemaliger Stasimajor, ist ein guter Mensch.“ Wo in Deutschland ist so ein Satz zuletzt geschrieben worden?

Timothy Garton Ash kam im Juli 1978 als 23jähriger Student nach Berlin, um für eine Doktorarbeit über das nationalsozialistische Deutschland zu recherchieren. Zunächst in Westberliner Archiven, dann neun Monate in Ost-Berlin. Geblieben ist er bis Oktober 1980. In Ost-Berlin geriet Garton Ash ins Visier der Stasi. Anfang der 90er Jahre findet er seine Akte in der Gauck-Behörde, und so zieht es den mittlerweile renommierten Oxforder Historiker, den Osteuropa-Experten und mehrfach preisgekrönten Publizisten („Ein Jahrhundert wird abgewählt“, „Im Namen Europas“) 1994 an den Ort seiner Studienzeit zurück. Zwei Jahre in Berlin stehen gegen zwei Jahre Berlin in der OPK-Akte, MfS, XV 2889/81, Deckname „Romeo“. Zwei Versionen ein und desselben Lebens.

Garton Ash liest seine Stasiakte, vergleicht die Akteneintragungen mit seinen Tagebuchnotizen, trifft sich mit den Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, die in seiner Akte auftauchen, und mit den Stasioffizieren, die seinen „Fall“ bearbeitet haben. Zunächst bewegt ihn eine simple Frage: Stimmt das, was in meiner Akte steht, mit dem überein, was ich erlebt habe? Garton Ash macht dabei eine interessante Entdeckung, die das Erinnern berührt. Er merkt, daß er nicht nur eine Akte erkunden muß, sondern auch ein Leben. „Das Leben des Menschen, der ich damals war. Das ist nicht dasselbe, wie ,mein Leben‘. Was wir gewöhnlich ,mein Leben‘ nennen, ist eine fortwährend umgeschriebene Version von unserer eigenen Vergangenheit. ,Mein Leben‘ ist die Autobiografie in unserem Kopf, mit der und durch die wir alle leben. Was wirklich geschah, steht auf einem anderen Blatt.“ Garton Ash macht sich auf die „Suche nach einem verlorenen Ich“. Aus der bloßen Rekonstruktion einer Stasiakte wird sehr schnell eine spannend geschriebene politische Erzählung über Täter und Mittäter, über Gedächtnis und Erinnern, über Geheimdienste und den Umgang mit der Vergangenheit.

Die zentrale Frage des Buches ist die nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen Zwängen und persönlicher Freiheit. Warum wird der eine Mensch ein Kollaborateur und der andere ein Dissident? Mit dem Historiker Garton Ash gefragt: „Was ist es, was den einen zu einem Graf Stauffenberg macht und den anderen zu einem Albert Speer?“ Der Reiz des Buches besteht darin, daß es auf diese Frage keine Antwort gibt. Garton Ash nähert sich einer Antwort nur an, er läßt ganz verschiedene Argumente nebeneinanderstehen, viele Sätze versieht er mit einem Fragezeichen. In den Lebensgeschichten, die er von den Inoffiziellen Mitarbeitern und den Offizieren der Stasi zusammenträgt, vermischen sich Schuld und Verzeihen.

Mit um so größerer Eindeutigkeit kritisiert er die zwei westlichen Fehlhaltungen in dieser Frage. Die einen würden mit einer unglaublichen Arroganz unterstellen, die ganze DDR hätte nur aus der Stasi bestanden. Die anderen würden beständig relativieren und behaupten, sie wüßten nicht, wie sie sich in einer Diktatur verhalten hätten, wahrscheinlich wären sie auch IM geworden. Mit zwei leisen Fragen legt Garton Ash das ganze Dilemma der westdeutsch dominierten Vergangenheitsaufarbeitung in der Bundesrepublik bloß: „Wer sind wir, zu verurteilen? Wer sind wir, zu vergeben?“

Timothy Garton Ash hat ein sehr persönliches, ein ganz und gar unprätentiöses Buch geschrieben. Seine Brisanz liegt in dem Verzicht auf alles Spektakuläre. Wie schon bei der Amerikanerin Tina Rosenberg in „Die Rache der Geschichte“ ist auch bei dem Briten Garton Ash vieles in der DDR, in Ostdeutschland genauer beobachtet und stimmiger als bei den meisten (west)deutschen Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigten – oder soll man besser sagen: profilierten? Das liegt wohl daran, daß beiden Autoren als Ausländern der Glaube fehlt, genau zu wissen, wie es in einer Diktatur wie der DDR aussah. Mehr noch: Beide Bücher leben von der Voraussetzung, daß man das in Wirklichkeit gar nicht wissen kann. Das muß man erfahren wollen.

Timothy Garton Ash ist wie Tina Rosenberg zuallererst neugierig. Wenn er schreibt, möchte er vor allem verstehen, die Mitläufer und Täter der DDR eingeschlossen. Das darzustellen gelingt ihm auch deswegen so überzeugend, weil er seine eigenen Versuchungen nicht verschweigt: Während seines Studiums wäre er um ein Haar beim britischen Geheimdienst gelandet. Das Verständnis hat bei Garton Ash aber auch seine klaren Grenzen. Was er von der DDR und ihren Machthabern hält, wird in der kühlen Distanz, mit der er sie beschreibt, deutlich.

Timothy Garton Ash ist überzeugt davon, daß es richtig ist, die Stasiakten für jeden Bürger zu öffnen. Dennoch bleiben ihm die moralischen Skrupel eines Eindringlings in das Leben anderer Menschen. Er fragt sich immer wieder, ob es nicht weiser wäre, den Inoffiziellen Mitarbeitern, denen er seine Akte präsentiert, ihre auf Selbsttäuschung gegründete Selbstachtung zu lassen. Nach einem Besuch bei einer über 70 Jahre alten jüdischen Kommunistin, die über zehn Jahre im sowjetischen Arbeitslager gesessen hat und später als IM tätig war, wünschte sich Garton Ash fast, er hätte sie nicht zur Rede gestellt: „Mit welchem Recht, für welche gute Sache habe ich einer alten Dame, die so viel in ihrem Leben erlitten hat, die Gnade des selektiven Vergessens verweigert?“ Erst wenn solche Sätze im Spiegel stehen, ist Deutschland bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit wirklich vorangekommen.

Timothy Garton Ash: „Die Akte Romeo“. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hanser Verlag, München 1997, 271 Seiten, 36 DM

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