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Ethnographen wider Willen

100 Jahre dreht sich die Schallplatte seit ihren Anfängen aus Schellack. Ausgerechnet Kommerz und Konkurrenz haben die Konservierung vieler Regionalstile bewirkt  ■ Von Christoph Wagner

Schon am Anfang war Multikulti. Es war im Jahre 1902, als die Brüder Fred und Will Gaisberg – Vertreter der englischen „Grammophone Company“ – in Italien unterwegs waren, um Aufnahmen der Stimme des Papstes zu machen. Bei einem Aufenthalt in Mailand hatten sie Enrico Caruso gehört und nachgefragt, was der „Maestro“ für die Aufzeichnung von zehn Liedern verlangen würde. Trotz der astronomischen Gagenforderung von 100 Pfund Sterling kam die Aufnahme zustande, die zum ersten Riesenerfolg der Plattenbranche wurde, Caruso 5 Millionen Dollar einbrachte und seiner Plattenfirma das Doppelte.

Möglich machte es eine Mischung aus Schiefermehl, Rußstaub und Schellack, mit der der in Hannover geborene, 1870 in die USA ausgewanderte Elektroningenieur Emil Berliner es schaffte, die damals gebräuchlichen Tonträger (Walze und Wachsplatte) durch ein haltbareres Material zu ersetzen. Jetzt konnten Schallplatten in beliebiger Zahl gepreßt werden – der Durchbruch.

Das war 1897, vor 100 Jahren, in denen die Schallplatte mehrmals das Material wechselte, zum Alltagsgegenstand wie zum Kultobjekt wurde – und das aus bescheidenen Anfängen. Zu Beginn waren die Schellackplatten nur einseitig bespielt, liefen mit 80 statt mit 78 Umdrehungen pro Minute und besaßen kein gedrucktes Label. Erst nach der Jahrhundertwende setzte sich die Musikplatte gegenüber der Sprechplatte durch. Einer der ersten Hits: erwähnte Caruso- Aufnahme, die bewirkte, daß in Deutschland der Verkauf von Tonträgern bis 1906 auf 18 Millionen anstieg. Bald gehörte ein Trichtergrammophon in jede Bürgervilla und hielt auch in Kneipen, Cafés und Biergärten Einzug.

Doch die Firmen wollten mehr. Um den Absatz von Grammophonen weltweit anzukurbeln, benötigte man dringend Schallplatten mit Musik aus aller Welt. So kam Fred Gaisberg nach seiner Italienreise 1903 nach Shanghai. Am 18. März waren die ersten zehn Aufnahmen „geschnitten“ und Gaisberg der Erschöpfung nahe. „Die sogenannte Musik der 15 Chinesen ist ein einziges Krachen und Knallen. Das Getöse hat meinen Verstand derart gelähmt, daß ich kaum noch denken kann“, schrieb er in sein Tagebuch.

Frühes Aloha from Hawaii

Erst die „Tango-Welle“, die ab 1907 über Nizza und Paris nach Europa schwappte, und die Hawaii-Musik-Mode, die wenig später zuerst die USA und dann die ganze Welt erfaßte, führte der Plattenindustrie das enorme kommerzielle Potential der Ethno- Platten vor Augen. Es war verrückt: Zwischen 1915 und 1925 avancierte „Hawaii-Musik“ zum erfolgreichsten Genre in den USA; was nicht nur schwarze Bluesmusiker veranlaßte, ihre Gitarrentechnik umzustellen, sondern auch weiße Hillbilly-Musikanten animierte, im Stil der Hawaii-Gitarristen über die Saiten zu gleiten. Exotik wurde zum Verkaufsfaktor, was die Erschließung neuer Ressourcen nötig machte.

Ob in der Südsee, der Karibik oder Südamerika – überall tauchten jetzt „Recording-Crews“ auf. „Unter den Reisenden, die jetzt mit der „S.S. Matura“ aus New York angekommen sind“, berichtete die Port of Spain Gazette am 28. August 1914, „befanden sich auch Mr. George Cheney und Mr. Charles Althouse von der Aufnahmeabteilung der Victor-Sprechmaschinen-Firma. Sie sind eigens hierher gekommen, um das komplette Repertoire der Musik von Trinidad aufzuzeichnen.“

In den zwanziger Jahren kam in den USA der Siegeszug der Schellackplatte ins Stocken – mit dem Rundfunk war ein Konkurrent entstanden. Der Erfolg der lokalen Radiostationen basierte hauptsächlich auf Live-Musik-Shows, in denen lokale Talente ihr musikalisches Können unter Beweis stellten: Bluessänger, Gospelquartette und Hillbilly-Bands. Die Plattenbranche reagierte prompt auf das „Wunder des Radios“. Eilends wurden Aufnahmeteams ins Mississippi-Delta und ins südliche Apallachen-Gebirge beordert, wo sie in irgendeinem Hotel einer größeren Stadt Mikrophone aufbauten und in der Lokalzeitung die Session annoncierten. Oft handelte es sich bei diesen frühen Aufnahmen um die ersten phonographischen Aufzeichnungen eines bestimmten Regionalstils. Die Aufnahmecrews waren Ethnographen wider Willen, was den Schellacks heute einen großen historischen Wert verleiht. Um so verwunderlicher ist es, daß viele dieser raren Tondokumente der Nachwelt selten durch den Einsatz von Schallarchiven oder Museen erhalten geblieben sind. Vielmehr erwiesen sich private Sammler als die viel sorgfältigeren Archivare.

Aus Schellacks werden Fetische

Die Welt der Schellacksammler ist ein Universum für sich, in dem nicht Ratio und Vernunft, sondern Leidenschaft und Obsession regieren. Sammler sind Triebtäter, die Gebrauchsgegenstände in Kultobjekte verwandeln: Aus Schellacks werden Fetische. Der 60jährige Joe Bussard aus Frederick im amerikanischen Bundesstaat Maryland gehört zu dieser Spezies, seit er nach dem Zweiten Weltkrieg als Zwölfjähriger mit dem Sammeln von „78ern“ begann, weil er seine Lieblingsplatten nicht mehr in den Läden fand. Als er 16 war, streifte er mit dem Auto durch Frederick County und klapperte Wohnhäuser und Farmen ab: „Got any old records?“

Manchmal kam er mit einer Kofferraumladung voller Schellacks zurück, die man ihm oft sogar kostenlos überlassen hatte. „Wir haben jetzt 'nen Fernseher und hören uns das alte Zeug nicht mehr an“, wurde ihm mit einem Ausdruck von Dankbarkeit gesagt. Heute gilt Bussards Sammlung mit mehr als 25.000 Schellacks als die bedeutendste der USA. „Dieser Kerl hat vielleicht die beste Sammlung der Welt“, sagt Richard Nevins, Chef des Yazoo-Labels. „Er besitzt das größte Archiv amerikanischer ,Rootsmusic‘, während die Library of Congress oder Smithsonian nichts haben.“

In Bussards Kollektion befinden sich einige absolute Raritäten, von denen weltweit nur noch ein einziges Exemplar existiert. Das treibt die Preise nach oben. Bei Auktionen stehen frühe Bluesplatten besonders hoch im Kurs. Einzelne Schellacks des legendären Bluessängers Robert Johnson, die in den dreißiger Jahren Flops waren und deshalb nur in kleinen Zahlen existieren, erzielen bis zu 5.500 Dollar.

Mittlerweile hat sich das „Re- Issue“-Geschäft zu einem Unterzweig der Schallplattenbranche entwickelt. Weltweit gibt es gut ein Dutzend Labels, die sich auf die Wiederveröffentlichung von Schellacks spezialisiert haben. In Deutschland sind Trikont und Bear Family die beiden führenden. In England hat Harlequin Records mit „Early Recordings“ aus der Karibik, der Südsee und Lateinamerika für Aufsehen gesorgt. Fermaux & Associés (in Deutschland im Vertrieb von Fenn Music) ist eine profilierte Firma aus Frankreich, deren Spektrum von früher Musette bis zu den ersten Musikaufzeichnungen aus Guadeloupe reicht. Neben Rounder und Arhoolie ist Yazoo das wichtigste Label historischer „Weltmusik“ in den USA; das vor kurzem eine Serie unter der Überschrift „The Secret Music of Mankind – Ethnic Music Classics“ ins Leben gerufen hat.

2.000 Stück sind heute ein Bestseller

Doch niemand hat so viele „Re-Issues“ vorzuweisen wie das Document Label von Johnny Parth aus Wien. Als Ein-Mann-Unternehmen hat Parth im letzten Jahrzehnt die komplette schwarze Blues- und Gospelmusik der Vorkriegszeit der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht: mehr als 1.000 Tonträger mit mehr als 20.000 Titeln. Mit seiner eigenen recht beachtlichen Schellacksammlung wäre er dabei nicht weit gekommen. Vielmehr konnte er sich auf ein internationales Netz von Sammlern und Experten verlassen, die ihm die seltenen Scheiben zur Verfügung stellten. Wenn Document Records von einer Platte weltweit mehr als 2.000 Stück verkauft, gilt sie als Bestseller. Jetzt hat sich Parth im Rentenalter von 64 Jahren noch einmal ein Projekt von ähnlicher Größenordnung aufgeladen. In den nächsten Jahren will er die gesamte amerikanische Hillbilly-Musik der Schellack-Ära auf CD publizieren. Was garantiert, daß die Flut von Wiederveröffentlichungen nicht so schnell abreißen wird.

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