: Wunsch nach Verdrängung
■ Amnestie für DDR-Unrecht führt nicht zur Aussöhnung
Der Urteilsspruch gegen Kleiber, Krenz und Schabowski war noch nicht zu Ende gesprochen, da meldeten sich bereits die ersten mit der Forderung nach einer Amnestie zu Wort. Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer zum Beispiel will zum 9. November 1999 eine Generalamnestie. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer sollen andere Formen als die justitielle im Umgang mit der untergegangenen DDR gesucht werden. Vordergründig hört sich das ja ganz gut an. Es hat nur den Schönheitsfehler, daß es diesen anderen Umgang wenigstens bisher gar nicht gibt. Die Gerichtssäle sind zur Zeit der einzige Ort, an dem über Unrecht in der DDR geredet und geurteilt wird.
Deshalb aber von einer Siegerjustiz zu sprechen, ist reichlich überzogen. Zum einen sei daran erinnert, daß das Verfahren gegen die Politbüromitglieder noch zu DDR-Zeiten initiiert wurde. Zum anderen entpuppen sich die Gerichte gar nicht als der Racheengel, als der sie gerne gescholten werden. Über 50.000 Ermittlungsverfahren wurden nach der Vereinigung eingeleitet, in nur wenigen Prozent der Fälle wurde dann tatsächlich Anklage erhoben. Die Gerichtsverfahren endeten auch nicht regelmäßig mit hohen Urteilssprüchen.
Wer heute eine Amnestie anmahnt, der sollte sich die Folgen seiner Forderung vor Augen führen. Geringfügige und mittelschwere Delikte sind bereits verjährt, sie können nicht mehr strafrechtlich geahndet werden. Von einer gesetzlich geregelten Straffreiheit könnten also nur die profitieren, die sich schwerwiegender Rechtsverstöße und Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben. Man sollte sich gründlich überlegen, ob es tatsächlich zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit führt, wenn etwa ein zu Unrecht ergangenes Todesurteil unter den Teppich einer Amnestieregelung gekehrt wird.
Der Ruf nach einem Schlußstrich ist nicht neu. Er ertönt immer dann, wenn die Aufarbeitung der Geschichte Betrachtern und Betroffenen als Zumutung und Belastung entgegentritt. Das Aussparen bestimmter Probleme aus der öffentlichen Diskussion hat aber noch keiner Gesellschaft geholfen – gerade das ist eine der Lehren aus dem Zusammenbruch der DDR. Wer heute eine Amnestie fordert, der redet einer Amnesie das Wort. Wolfgang Gast
Bericht Seite 4
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