■ Polizeiforschung: Daniel J. Goldhagen, Christopher Browning und die Debatte zum Sicherheitsmodell New York: Theorien der geringsten Einfallskraft
In den USA wurde Daniel Jonah Goldhagens Deutschlandtournee zu „Hitlers willige Vollstrecker“ mit einer Michael-Jackson- Tour verglichen. Von Begeisterung und Ergriffenheit umgeben, mutierte er zum deutschen Nationalpsychiater: Hitler und sein Apparat hätten nur umgesetzt, was dem Haß der Deutschen auf die Juden und ihren Vernichtungswünschen entsprochen habe. Eine finale Diagnose, weiteres Nachfragen schien zwecklos und politisch nicht opportun.
Goldhagens Theoriegerüst über die deutsche Pathologie wird nun auch bei uns einer Revision unterzogen. Beim ergebnislosen Gerangel um den renommierten Harvard-Lehrstuhl war Christopher Browning einer der Konkurrenten von Goldhagen. Browning hatte vier Jahre vor „Hitlers willige Vollstrecker“ mit „Ordinary men“ („Gewöhnliche Männer“) eine Studie über die Hamburger Polizisten des Reservebataillons 101 veröffentlicht. Die Polizisten hatten durch aufgesetzten Genickschuß im besetzten Polen wehrlose jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet. Den Polizisten, fast alle Familienväter aus der oberen Unterschicht, weder Überzeugungstäter noch mordtrainiert wie die Einsatzgruppen, wurde vom Kommandant Trapp befohlen, die in dem Dorf Josefow zusammengepferchten Juden zu „sammeln“ und zu töten. Trapp war sich der Ungeheuerlichkeit dieses Einsatzes, dieser eines Schutzmannes völlig unwürdigen Aufgabe, bewußt. Er begründete den Befehl mit den Bombennächten in deutschen Städten, hinter denen auch die Juden stecken würden. Dann offerierte er seinen Männern mit tränenerstickter Stimme, sich von der unmittelbaren Arbeit des Tötens freistellen zu lassen. Sofort meldeten sich einige.
Brownings Untersuchung war ein wissenschaftlicher Durchbruch. Seine Schlußfolgerung ist viel beunruhigender (und wissenschaftlich begründeter) als die von Goldhagen. Während Goldhagen eine generell antisemitische Disposition der Deutschen behauptet, schlußfolgert Browning: Wenn diese Männer töten konnten, können es unter ähnlichen Umständen auch andere. Browning befaßt sich mit der ungleich schwierigeren Aufgabe, Abweichungen zu erfassen und zu erklären. Anhand derer, die sich der Männerarbeit des Massenmordens verweigerten, stellt er die wegweisende Frage: Wie wurde der Schritt vor den Kameraden begründet, wodurch wurde er bei den „Verweigerern“ veranlaßt? Selbst- und Fremdstigmatisierung als „Schwächlinge und Weicheier“ war eine der Strategien, mit denen die Männlichkeitskultur der Täter die Abweichler gewähren lassen konnte. Die Starken mußten die Arbeit der Weicheier mitmachen. Fazit: Wer in einer männlich dominierten Kultur, in der Gewaltausübung gegenüber Schwächeren als Arbeit gilt, Anstand, Gewissen, Rechtsbewußtsein als handlungshemmend aufrecht erhält, wird entmännlicht.
Zusätzlich zu Brownings Werk enthält die Untersuchung des Soziologen und Polizeiforschers Hans Joachim Heuer über die Sozialisation von Schutz- und Kriminalpolizisten der Weimarer Zeit in die Geheime Staatspolizei Hitlerdeutschlands weiteres Material zum Thema NS-Polizei. Pathologiemodell, Befehlsgehorsamsthese und die gängige verballhornisierte Fassung des „autoritären Charakters“ sind unbefriedigende, insgesamt falsche Erklärungen für die Prozesse, die in Männlichkeitskulturen Gewalt fördern und legitimieren und gleichzeitig auch Verweigerung ermöglichen.
Wird bei der aktuellen Diskussion um Übergriffe von seiten der Polizei auf Heuer und Browning verwiesen, so hegen einige Polizeiführer den Verdacht, man wolle der Polizei pauschal eine ideologische Verwandtschaft zum Nationalsozialismus unterschieben. Es geht genau um das Gegenteil. Daß Polizisten damals mitgemacht haben, ist bekannt. Daß es selbst im Unrechtssystem und im angeordneten Gewaltexzeß eine menschliche Dimension des Zweifels, auch der Ausflucht, der kleinen Verweigerungen gab, sollte Mut machen.
In einer demokratischen Polizei ist gerade gegenüber schwierigen „Kunden“ an Tugenden von Anstand und Ehrlichkeit, von Rechtmäßigkeitsgrundsätzen und einer Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu erinnern. Im Terrorsystem waren solche Haltungen Ausnahmeerscheinungen, deren Träger „Weicheier“. Heute sind Menschlichkeit und Rechtmäßigkeit als Regelverhalten durchsetzbar. Wer als Polizist bei Kollegen anderes sieht und dies nicht mitmacht, sondern es unterbinden will, hat es nicht leicht, ist aber nicht in einer aussichtslosen Situation. Der Mut wird häufig mit dem Vorwurf „Verräter“ geahndet. Aber die Vorfälle in Frankfurt, Hamburg und gerade in Berlin zeigen, daß es diesen Mut gibt, nicht mitzumachen und sich an Vorgesetzte zu wenden.
Wer mit Michael Jackson anfängt, darf mit Frank Sinatra aufhören. „New York, New York“ ist zum Tophit der Medien- und Politdjangos geworden. Wenn die harte Linie dort funktioniert (was bezweifelt werden darf), dann wird auch hier mehr Härte gegenüber Kriminellen und Störern gefordert. Das heißt: Saubermachen durch Polizei. Saubermachen ist keine besonders angesehene Tätigkeit. Akzeptabel wird Saubermachen in Männlichkeitskulturen, wenn es hart und effektiv durchgeführt wird, nicht als alltägliche, geduldige, ermüdende, aber notwendige Routine, sondern als Einsatz von Spezialsaubermachern. War es nicht gerade dieses „effektive“, mit selbstverliehenem Elitebewußtsein durchgeführte „Säubern“ von Bahnhofs- und Innenstadtszenen durch nicht besonders geschulte, z.T. strafversetzte Beamte, das die Polizei in den Medien als Schläger und Ausländerhasser in Verruf brachte?
Bevor die Bedingungen, die Schwierigkeiten und die Möglichkeiten von Polizeiarbeit in den momentanen Elendszonen der Kultur ausreichend bekannt gemacht und debattiert worden sind, sollen durch härteres polizeiliches Einschreiten genau dort Probleme bekämpft werden, wo sich derzeit erhebliche personelle, politische und rechtliche Schwierigkeiten beim polizeilichen Vorgehen auftun.
Die Debatte um das „Sicherheitsmodell New York“ ist, wie seinerzeit die Goldhagen-Debatte, eine über weite Strecken unüberlegte, von Gefühlen und Selbstdarstellungen statt Nachdenken geprägte Veranstaltung, eine Kür von Theorien der geringsten Einfallskraft. Wenn es ein deutsches Ärgernis gibt, dann ist es die ungebrochene Attraktivität von monokausalen Ursachenannahmen und der dazugehörigen Illusion von effektiver Abhilfe. Joachim Kersten
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