„Es wimmelt vor lauter Bulimiekranken“

■ Dana Vávovrá über ihren Debütfilm „Hunger“, der am Mittwoch die Oldenburger Filmfestspiele eröffnet

Was ist ein Tabu? Zum Beispiel Aids. Und dennoch war Aids im Independent Kino der Endachziger fast so etwas wie ein Modethema. Kein kleineres Festival von Augsburg- oder Hof-Format, ohne wenigstens einen Aids-Dokumentarfilm mit anschließendem ergreifenden live-Gespräch mit Betroffenen. Und Tom Hanks konnte seinen Starstatus mit ein wenig HIV-positiv in „Philadelphia“durchaus untermauern. 100prozentige Volltabus gibt es nicht mehr, dafür vielfältigste Teiltabus mit unterschiedlichsten Verschwiegenheitsarealen. In einer neurotisch offenen und offen neurotischen Gesellschaft wird alles ein bißchen durchgekaut, alles aber auch ein bißchen weggeschoben.

Verfressenheit und Gewichtsprobleme sind Lieblingsthemen in Fitness-Saunen und auf Gartenparties. Und dennoch kann Dana Vávrová für sich vermutlich in Anspruch nehmen, den ersten Spielfilm über Bulimie gemacht zu haben. Höchst seltsam, oder?! „Bulimie ist eine Sucht, die man hervorragend unter den Teppich kehren kann. Ein Alkoholiker kotzt bisweilen auf die Straße. Ein Drogensüchtiger rebelliert schon mal in aller Öffentlichkeit. Gesund sieht er auch nicht immer aus. Die, respektive der Freß-Kotz-Süchtige dagegen macht nur sich selber fertig.“

Den Folgen dieser Haltabuisierung begegnete Dana Vávrová dann bei der Arbeit am Thema auf Schritt und Tritt. Die vielbeschriebene Krankheit ist noch immer erstaunlich unbekannt. „Da wird viel durcheinander gebracht, zum Beispiel Magersucht mit Bulimie verwechselt. Und noch immer halten viele Bulimie für ein ästhetisches Problem eitler Frauen, eine typische Model-Krankheit, erzeugt lediglich durch falsche Schönheitsideale.“

Natürlich war Vávrová entsprechend skeptisch bei ihrem Versuch einer Teilfinanzierung durch Product placement, allerdings auch neugierig. Kann sich ein Marketingmensch vorstellen für sein Food-Produkt zu werben, indem man zeigt, wie es verschlungen wird, und zwar so gierig, daß es wieder ausgekotzt wird? Selbstverständlich stieß Vávrová auf rüde Ablehnung. Am Ende mußte man statt Geldsegen mit unangenehmen juristischen Folgen im Falle der Kenntlichkeit von Produkten rechnen. So überklebte man Mineralwasserflaschen, und Smarties heißen im Film „Mandies“. Skepsis, aber eben nicht nur: einer der Ansprechpartner war begeistert und half, wo es ging; eine Bekannte von ihm war betroffen. Noch immer sensibilisiert für das Thema hauptsächlich die eigene Erfahrung und kaum der gesellschaftliche Diskurs, ob Kunst oder Biolek. Doch diese Erfahrung ist massiv: „Wo immer ich hinkam: es wimmelte vor lauter Bulimiekranken. Und immer wieder die Bestärkung: ich soll nur ja nicht aufgeben. Etwa 2,5 Millionen Menschen sollen in diesem Land in psychotherapeutischer Behandlung sein. Aber es sind wahrscheinlich deutlich mehr betroffen, als man annimmt.“Nicht weniger beeindruckend waren für Vávrová die Begegnungen mit Betroffenen bei ersten Filmpräsentationen in Göttingen und in Braunschweig. „Die stehen plötzlich vor dir, erzählen dir dies und das, und du denkst dir nur hilflos: Ach Scheiße. Als ich da geballt den Menschen gegenüberstand, die mein Thema tatsächlich zu leben haben, war ich unheimlich froh darüber, daß mein Film ein hoffnungsvolles Ende nimmt."

Im Vorfeld des Films hat sich die Regisseurin eingehend mit Betroffenen und mit Literatur zum Thema auseinandergesetzt. „Eine filmische Aufschlüsselung des Krankheitsbildes aber wollte ich nicht leisten. Auch an einem Zu-Ende-Erklären der Sucht, solange bis keine Frage mehr offen bleibt, lag mir nichts.“Denn: „Es gibt nicht DIE Bulimie. Jeder Kranke lebt seine ganz eigene, individuelle Form.“

Der Alkohol hat seine Ästhetisierer und Überhöher, und zwar auf jedem künstlerischen Niveau, von Jack Londons genialem „John Barleycorn: alcoholic memories“bis zum Whiskey Jerry Cottons, von Barflies bis Leaving Las Vegas. An der Aura der Drogen bastelten De Quinceys „Bekenntnisse eines Opiumessers“ebenso wie Stones „Doors“. Bulimie dagegen kennt noch keine starken Bilder, ist bestenfalls profan und trival, schlimmstenfalls ekelhaft. Diese Terra incognita okkupiert Vávrová gekonnt, zum Teil mit Mitteln des Horrorfilms. Die Kühlschranktür geht auf mit jenem dumpfen, im Magen wühlenden Knall, in dessen Nachhall in anderen Filmen der Killer naht. Das Licht bleicht mysteriös aus wie bei Alien-Attacken. „Die inneren Vorgänge einer Sucht sind schließlich gar nicht so weit entfernt vom Psychothriller.“Die Hauptdarstellerin Catharine Flemming, hinter Sträuchern fressend, an kalte Wände sich schmiegend, auf nackten Kellerböden kauernd, wirkt wie ein gieriges Monster, ein verschrecktes Tier, ein unschuldiger Engel, alles und jedes, schillernd wie die Sucht, nur eben nicht schwach und mickrig. Und genau das ist die Stärke des Films: er spendet auch dieser Sucht ihre Größe und zeigt die gewaltigen seelischen Energien, die in sie einströmen. „Jeder Süchtige ist stark.. Im Grunde genommen treibt ihn dieselbe Sehnsucht wie uns alle. Vielleicht geht er nur einen Schritt weiter. Das, was die Psychologen Suchgewinn nennen, ist äußerst fesselnd. Da geht es um die Idee, besonders zu sein, sich beherrschen zu können, wenn alle anderen an ihren Frikassees nagen. Und es geht um Reinigung.“Deshalb spielen Duschszenen im Film eine zentrale Rolle.

Überhaupt interessierte sich Vávrová nicht nur für die Sucht als Sucht, sondern als Metapher für das Unbefriedigende des modernen Lebens. Alle Figuren existieren nur als Multiidentitäten, freundlich zum Kunden, anarchisch mit der Spraydose in der Hand, harmlos im Gespräch mit der Mutter, unbeschwert am Abend mit dem Geliebten, trocken und souverän im Beruf. Manchmal fungieren die Freßattacken als Sprungbrett zwischen den wechselnden Daseinsformen.

Das Erlangen einer schalen Zweisamkeitsidylle mit kultiviertem Candlelightdinner als Happy End ist die einzige Enttäuschung dieses wichtigen Films. „Eigentlich träumt meine Heldin ja nur, so zu leben, wie alle anderen Frauen.“Könnte ja sein, genau das ist ihr Problem. bk

ab Donnerstag in der Schauburg