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Herzls mißtrauischer Blick nach rechts

„...in Basel habe ich den Judenstaat gegründet“, heißt es im Tagebuch von Theodor Herzl. 1897 fand der erste Zionistenkongreß statt. Über Ursache, Aktualität und Bedeutung des Zionismus wurde erneut in Basel gestritten  ■ Von Christian Semler

Theodor Herzl wollte einen Staat für die Juden, aber er wollte ihn persönlich schaffen, unter möglichst geringer Beteiligung derer, um die es ging. Die Potentaten des Westens, voran der verehrte Kaiser der Deutschen, sollten für das Projekt gewonnen werden. Erst als die Ein-Mann-Diplomatie ins Stocken geriet, wandte sich Herzl notgedrungen ans Judentum. Er berief den ersten zionistischen Weltkongreß nach Basel ein. Auch der Ort war ein Notbehelf. Das vorher ausgewählte München schied aus wegen der dem Zionismus feindlichen Haltung der deutschen Rabbiner, und Zürich, die zweite Wahl, beherbergte zu viele zwielichtige Gestalten, Revolutionäre, deren mögliches Auftreten der Respektabilität des Kongresses abträglich gewesen wäre. Also Basel, das neben seinen, Theodor Herzl teuren, humanistischen Traditionen auch über genügend koschere Restaurants verfügte.

Der Kongreß im August 1897 wurde zu einem spektakulären Erfolg. Der Grund dafür lag nicht nur in einer perfekten Regie und der glänzenden rhetorischen Begabung seines Präzeptors. Es war die Idee, die zündete. Mit seiner Forderung nach einem eigenen Staat für die Juden übersetzte Herzl uralte messianische Hoffnungen ins Politische. Die Verwünschungen der Orthodoxie, ihr Vorwurf, er greife dem Ratschluß Gottes vor und trivialisiere den Gedanken der Rückkehr ins gelobte Land, prallten von ihm ab. Er hatte ein starkes Argument auf seiner Seite: Die Not der Juden im Zarenreich und die Gleichgültigkeit, mit der die Öffentlichkeit einschließlich der emanzipierten Juden des Westens auf diese Not reagierte.

Herzl deutete die vor allem im Osten Europas noch starken gemeinsamen religiös-kulturellen Traditionen des Judentums um. Er sah sie als Ausdruck des einen jüdischen Volkes. Und dieses Volk sollte, ganz im Sinn der europäischen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts, seinen Staat anstreben. Es dauerte nur wenig mehr als die von Herzl prognostizierten 50 Jahre, bis sein Projekt Wirklichkeit wurde. Aber unter welchen entsetzlichen Voraussetzungen? Erst der deutsche Mord an den europäischen Juden brachte die Großmächte dazu, nach dem Zweiten Weltkrieg der Gründung des Staates Israel zuzustimmen.

Den Teilnehmern der Konferenz, die sich jetzt zur 100-Jahr- Feier des Basler Kongresses unter einem Riesenfoto des Gründervaters am Gründungsort, dem Stadt- Casino, zusammenfanden, stand nur wenig der Sinn danach, eine Erfolgsgeschichte zu feiern. „Wie alle Ismen“, so Anita Shapira von der Universität Tel Aviv, „altert auch der Zionismus“. Wie auf Gedenkveranstaltungen dieser Art unvermeidbar, wurden die Probleme, die die zionistische Bewegung heute zermürben, nur verdeckt thematisiert, in Watte verpackt – oder beschwiegen.

So erging es dem zentralen Problem, dem Verhältnis von Juden und Palästinensern in jüngster Vergangenheit und in Zukunft. Vorsorglich hatten die Veranstalter darauf verwiesen, daß dieser Auseinandersetzung ein eigenes Forum an einem anderen Ort gewidmet werde. Angesichts des gegenwärtigen, durch die Regierung Netanjahu verursachten „Nichts geht mehr“ ein verständlicher Schritt. Schließlich hatte der einzig zur Konferenz eingeladene Palästinenser, Muhammed Hourani, auch noch kurzfristig abgesagt. Aber nicht so sehr die Abwesenheit der palästinensischen Seite war für den Kongreß kennzeichnend, sondern, daß die palästinensische Fragestellung ausgeblendet wurde. Dem Verhältnis des frühen Zionismus zur arabischen Welt wurde kein Referat gewidmet. Immerhin hatte Herzl sich und den europäischen Potentaten versichert: „Für Europa würden wir dort in Palästina ein Stück des Walles gegen Asien bilden. Wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegenüber der Barbarei besorgen.“ Diese eurozentrische, im Geist des Kolonialismus verwurzelte Haltung blieb ebenso unerörtert wie die Auseinandersetzung zwischen dem „politischen“ und dem „kulturellen“ Zionismus, welch letzterer in Gestalt der Organisation Brith Schalom für einen bi-nationalen, palästinensisch-jüdischen Staat eingetreten war.

Ob die Leute von Brith Schalom nicht recht behalten hätten, wurde in der Diskussion aus dem Publikum gefragt. Eine schreckliche, eine traurige Frage. Brith Schalom löste sich nach Hitlers Machtergreifung auf. Seine Anhänger waren, im Interesse der jüdisch-arabischen Annäherung, für eine Beschränkung der jüdischen Einwandererquote eingetreten. Aber kann das Scheitern dieser Richtung, der immmerhin Denker wie Buber angehörten, es rechtfertigen, die historische Alternative in Schweigen zu begraben?

So geschah es, daß die offiziell abgesetzte Auseinandersetzung sich auf scheinbar entlegenem Gelände entlud – dem des Verhältnisses von Juden und Muslims im frühen und hohen Mittelalter. Nach Hava Lazarus-Yafe, Professorin aus Jerusalem, war dieses Verhältnis zwar juristisch, durch den „Pakt von Omar“, von Diskriminierungen der unterworfenen Juden (und Christen) geprägt, praktisch aber entwickelte sich eine Kultur der Toleranz, des Verstehens, des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Im Gegensatz zum christlichen Abendland habe es im muslimischen Orient viele Jahrhunderte lang keine Dämonisierung der jüdischen und christlichen Religion durch die Muslims gegeben. Für diesen Effekt haben erst Importe aus dem Westen gesorgt. „Wir sind“, resümierte Frau Lazarus, „nicht offen genug gegenüber anderen Erfahrungen, wir müssen mehr über den Islam lernen.“ Gegen diese Interpretation liefen eine Reihe von Diskussionsteilnehmern Sturm, die die Leidensgeschichte ihrer Familien unter arabischer Herrschaft in Erinnerung brachten und den Koran selbst beziehungsweise seine offizielle Auslegung als Grundlagentext des Judenhasses identifizierten. Zitate und Gegenzitate mittelalterlicher Denker wie des jüdischen Philosophen Moses Maimonides schwirrten durch das Basler Stadt-Casino. Die Mehrheit der Versammlung neigte Lazarus-Yafe zu, was auch Bassim El-Jalam, einen palästinensischen Politikwissenschaftler, dazu ermutigte, den einzigen Beitrag der „Gegenseite“ zu wagen. Er, der acht Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat, sagte, unter starkem Beifall, etwas Selbstverständliches: „Wir müssen es miteinander versuchen, als Individuen, nicht als Gefangene unserer Geschichte.“

Der Zionismus als Sammlungsbewegung für eine jüdische Nation und einen jüdischen Staat war pluralistisch in seiner Struktur wie in seinen Grundlagen. Hat er sich, fünfzig Jahre nach der Staatsgründung, aufgezehrt, ist von ihm mehr geblieben als eine Art ziviler Religion, die den Juden in aller Welt Loyalität gegenüber „ihrem“ Gemeinwesen auferlegt? In religiöser wie in weltlicher Perspektive galt den Juden die Diaspora, die Zerstreuung, als Exil, Israel hingegen als Heimat. Ist das heute noch so, angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Juden sich dauerhaft außerhalb Israels eingerichtet hat? Shmuel Eisenstadt von der Hebräischen Universität Jerusalem, zeichnete nach, wie gerade die Konsolidierung des jüdischen Staates zu einem paradoxen Ergebnis führte: Die jüdischen Gemeinden der Diaspora gewannen, oft erstmals in ihrer Geschichte, ein eigenes, selbständiges, politisches Profil. Sie beginnen, sich aus dem Bannkreis „Zentrum-Peripherie“ zu lösen.

Rita Thalmann, Wissenschaftlerin aus Paris, trat selbstbewußt als Sprecherin der größten jüdischen Gemeinde in Europa auf. Sie warf der israelischen Politik vor, die Diaspora nicht mit ihrem Eigenwert zu nehmen, sie nur im Bannkreis von Zentrum und Peripherie zu sehen. Künftig, so Thalmann, werden horizontale Verbindungen zwischen den Zentren der Diaspora neben die selbstverständliche Bindung an Israel treten.

Die Frage nach der jüdischen „Identität“ lastete schwer auf den Teilnehmern des Kongresses. Eliezer Schweid, Wissenschaftler aus Jerusalem, konstatierte, daß der Zionismus sich zur Ideologie des Staatsaufbaus verdünnt habe. Er beschwor die Tradition der osteuropäischen jüdischen Aufklärung, der Haskalla, der Renaissance der hebräischen Sprache und plädierte für eine „Rückkehr zu den Quellen“. Anderenfalls werde Israel zu „Kanaan“, einem x-beliebigen Staat, der die Verbindung zum Judentum in der Welt verliere.

Gerade dieses Dilemma nutzt der Flügel der jüdischen Orthodoxie, der Israel nicht als „Homeland“, sondern als „holy land“ begreift. Die Identität ist religiös in der Gesetzestreue fundiert, oder sie existiert nicht. Israel ist die Gesamtheit des versprochenen Landes. Also der Gottesstaat. Es gehörte zu den Pflichtübungen eines mehrheitlich laizistisch eingestimmten Kongresses, sich von den „Ultra-Orthodoxen“ zu distanzieren. Aber nur Dan Diner, der philosophische Pendler zwischen Essen und Tel Aviv, stellte das Wachstum der israelischen Ultras in Zusammenhang mit dem Problem der Legitimität des jüdischen Staates, damit der Voraussetzung seiner Identität. Für Diner ist 1948 das definitive, selbstverständliche Gründungsdatum, die Grenzen dieses Staates „wurden von Auschwitz bestimmt“ (Abbe Ebban). Wer aber, wie die Orthodoxen, den Staat in messianischer Perspektive sieht, muß ihn, mit jeder neuen territorialen Expansion, neu begründen. Paradoxerweise kann nur der Rekurs auf die absolute Katastrophe der Shoah und die ihr folgende Staatsgründung staatliche „Normalität“ schaffen, Legitimität sichern, den Frieden erreichen.

Soweit befand Diner sich mit dieser Argumentation nicht vom Belzebub des Kongresses entfernt, auf den einträchtig unter der Stockführung des Jerusalemer Zeithistorikers Yehuda Bauer eingeprügelt wurde. Die „Postzionisten“, die großen Mythenzertrümmerer, waren von der Veranstaltung ausgeschlossen. Was sie zu sagen hatten, mußte man Begleitmaterialien oder den Tageszeitungen entnehmen. Dabei ist diese Strömung vielleicht im heutigen Israel die einzige, die an die demokratischen und sozialen Impulse bei den frühen Zionisten anknüpft. Weshalb Moshe Zimmermann, einer ihrer führenden Köpfe, auch den Begriff des Neo-Zionismus für seine Strömung vindiziert. Nicht umsonst blickte Theodor Herzl vom Podium des Basler Kongresses streng und mißtrauisch nach rechts. „Macht keinen Unsinn, während ich tot bin“, hat er einmal einem Freund geschrieben.

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