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Tage der Entscheidung

■ Die Schleyer-Entführung war ein Klärungsprozeß

Mit deutscher Präzision und kühler Brutalität opferten vier Krieger der Roten Armee Fraktion vor 20 Jahren vier Menschen, um eines wichtigeren habhaft zu werden. Schon diese schlichte Tatsache grenzte an Selbstdenunziation der doch irgendwie kommunistisch gesonnenen Täter.

Dem Blutbad folgten die Tage der Entscheidung – für das Kommando der RAF, für eine demokratisch mäßig gefestigte politische Klasse, für den hochgerüsteten Staatsschutzapparat und für eine ganze Generation von Linken, die zehn Jahre zuvor ausgezogen war, mit fröhlich-verrückten Happenings und Puddingattentaten die noch junge Republik gründlich zu entlüften vom Muff der 1.000 Jahre.

Vor diesem Deutschen Herbst konnte niemand fliehen in mildere Gefilde. Die Kontrahenten zwangen das Publikum, wie nie zuvor und nie wieder nachher, mitten hinein in die blutige Arena. Mensch oder Schwein. Bürger oder Sympathisant.

Die Linke wand sich unter dem Alpdruck der falschen Alternativen. Hatten nicht nach dem Tod Benno Ohnesorgs Abstimmungen stattgefunden in den größten Hörsälen der Universitäten über die Frage der Volksbewaffnung? Hatten nicht Hunderte jenem Weg entschlossen zugestimmt, den dann wenige gingen ans bittere Ende, bis Köln und Mallorca, wo die Macht aus den Gewehrläufen auf „das Volk“ zielte? Andererseits: Konnte man sich mit jenen gemein machen, die erst „mehr Demokratie“ versprachen, dann die Berufsverbote erfanden, Hochsicherheitstrakte konstruierten und Gefangene verhungern ließen – und nun im Herbst nicht nur auf die bewaffneten Desperados zielten, sondern auch auf alle, die auf einer eigenen Vorstellung davon bestanden, was in Extremsituationen links heißt und Demokratie?

Es waren die Tage im Herbst 1977, in denen die Nachkriegslinke ihre Gewaltphantasien mit dem Holzhammer ausgetrieben bekam. Eine menschliche Gesellschaft wächst nicht aus Leichenbergen. Die letzten, die das damals nicht begriffen, verstanden es mit Verspätung im Herbst 1989.

Und es waren die Tage im Herbst 1977, als die deutsche Sozialdemokratie fast eine ganze Generation verlor. Doch das merkten die Genossen erst, als die neben ihnen im Parlament Platz nahm und irgendwann im Kabinett. Gerd Rosenkranz

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