: Wenn Spielzeugautos die Eltern ersetzen
Der siebenjährige Touland lebt in einem Flüchtlingslager in Italien. Sein Betreuer und ein Mädchen bilden jetzt seine „Familie“. Er wird sie verlieren, wenn er nach Albanien zurückgeschickt wird ■ Aus Brindisi Werner Raith
Der Anblick von Fremden hat auf den siebenjährigen Touland einen „verwüstenden Eindruck“, wie sein Betreuer Angelo festgestellt hat: „Nachdem er sich nur mit Mühe vom Schock der Trennung von seinen Eltern erholt hat, fürchtet er nur noch eines: auch von seinen neuen Bezugspersonen weggerissen zu werden.“ Touland sitzt in einer Ecke des Wohnraumes, den sich sechs albanische Flüchtlinge teilen, und spielt mit Autos – die er sofort an sich reißt, um damit in die Ecke zu kriechen, als wir eintreten.
Touland gehört zu jenen gut 400 Kindern, die Anfang 1997 auf Flüchtlingsschiffen aus Albanien angelandet sind. Nur wenige von ihnen kamen mit ihren Eltern – obwohl sie beim An-Land-Gehen allesamt jeweils von einer verhärmten Frau oder einem hageren Mann an die Brust gedrückt oder gar der Presse entgegengehalten worden waren. „Eintrittsbilletts waren sie“, sagt der 45jährige Angelo, „so kamen die Erwachsenen jedenfalls an Land und in eine warme Stube, die anderen wurden ja oft sofort wieder zurückgeschickt.“ Doch kaum hatten die fingierten „Eltern“ provisorische Aufenthaltsgenehmigungen, war es vorbei: „Die stießen die Kinder von sich, sagten uns, sie hätten die armen Würmer nur auf der Überfahrt betreut, weil deren Eltern offenbar nicht mitgekommen seien, nun sei's aber genug.“
Die meisten dieser Kinder wissen gerade mal ihren Namen, oft hapert es schon bei der Schreibweise der Nachnamen, und wo sie in Albanien gewohnt haben, ist auch nur schwer herauszubringen. Trotzdem sollen die Kinder nun zurückgeschickt werden, auch wenn man nicht weiß, woher sie kommen, „notfalls in ein Waisenhaus“, sagt ein Polizeioffizier im Auffanglager der „Profughi“ – und dann zuckt er die Schultern, als ihm gesagt wird, Waisenhäuser seien in Albanien Mangelware, in vielen Orten, auch in größeren Städten gar nicht vorhanden.
Das große Bangen hat begonnen, seit die Regierung Prodi Anfang September einen Stufenplan verkündet hat, wonach alle Albaner, deren Aufenthaltsgenehmigung Ende August abgelaufen ist, sofort und ohne Verfahren bis Ende November „repatriiert“ werden sollen, wenn sie erwischt werden – etwa 9.000 Personen. Die Regierung in Tirana, die an sich überhaupt keine Flüchtlinge zurückhaben will, hat sich damit einverstanden erklärt, unter der Bedingung kräftiger Zahlungen für die Wiedereingliederung.
Trotzdem zagen auch die „Legalen“: „Wen erwischt es zuerst? Wohin werden wir gebracht? Wie werden wir empfangen?“ fragt Pasquira, eine 30jährige Lehrerin, die seinerzeit mit ihrem Mann nach Italien geflohen ist, ihr Gespons aber inzwischen verloren hat, „irgendwohin, er ist einfach hier aus dem Lager ausgerissen“. Wahrscheinlich sei er in den Fängen der Organisierten Kriminalität gelandet, flüstert Angelo, „viele Schlepperbanden liefern die Illegalen ja direkt an die hiesigen Clans aus“. Wer schon bei der Einschiffung in Albanien mehr als die normalen 1.000 Dollar für die Passage bezahlt hatte, konnte damit rechnen, auf die eine oder andere Weise aus den Lagern herausgeholt zu werden. „Sicher der wirkliche Grund“, sagt der Polizist, „warum so viele Leute noch immer auf die Schiffe gedrängt haben, als längst klar war, daß wir niemanden aufnehmen würden, als unsere Kriegsmarine längst die Blockade verhängt hatte, ja sogar schon ein Schiff nach dem Zusammenstoß mit einer Fregatte mit 300 Personen gesunken ist: wichtig war nur, an Land zu kommen, das Weitere würden die italienischen Schlepper besorgen.“
Offiziell sitzen derzeit etwa 3.000 Albaner ohne Aufenthaltserlaubnis in Abschiebehaft. Die Dunkelziffer der noch nicht Erwischten wird aber auch bei vorsichtigen Behördenschätzungen nicht unter 10.000 bis 15.000 angegeben, manche Präfekturen gehen gar von 30.000 clandestini aus.
Pasquira ist wie Touland ein Opfer dieser Politik: Sie wird zurück müssen, ohne ihr Zuhause noch vorzufinden. Nachbarn haben ihr geschrieben, daß in ihrer Wohnung nahe Vlora jetzt ein ehemaliger Geheimdienstmann mit Familie sitzt, und alle Verwandten haben abgewunken, als sie nachfragte, ob sie dort unterkommen könne. Hätte sie ein Auskommen, sie würde Touland wohl mitnehmen – „aber so ist es unmöglich“.
Touland beginnt zu weinen, geht in den anderen Raum, wo Albika sitzt – und ebenfalls weint. Die Achtjährige hat mit Touland ein fast geschwisterliches Verhältnis entwickelt – trotzdem werden die beiden nun wieder getrennt. Denn Albikas Eltern konnten ausfindig gemacht werden, sie leben bei Tirana, während die Behörden im Falle von Touland den Süden des Landes als Herkunftsort vermuten und ihn, das Dekret will es so, dorthin zurückbringen werden. Albikas Eltern wollen keinen neuen Mitesser in der Familie, „sonst könnten die ja den armen Kerl mitbetreuen“, meint Angelo. Selbst das Angebot, Geld für die Aufnahme des Jungen zu bekommen, haben die Eltern ausgeschlagen: „Die trauen uns einfach nicht mehr“, sagt der Betreuer, „schließlich haben wir den Albanern schon vor fünf Jahren, bei der ersten großen Massenflucht, paradiesische Hilfen versprochen, und am Ende haben die Leute nix gekriegt.“
Draußen vor dem Tor hält ein Polizeiwagen, danach eine Limousine und noch ein Polizeiwagen – hohe Inspektion, vielleicht der Präfekt, vielleicht ein Regierungsvertreter, „vielleicht auch einer vom UNO- Hochkommissariat“, meint Angelo. Vier Männer gehen eilig vorbei, hinunter zur Verwaltung. Plötzlich wird draußen alles ruhig. Die Jungen im Lager haben aufgehört, Fußball zu spielen, die Älteren legen ihre Karten weg, selbst die plärrenden Radios werden leise gestellt. Vom Tor her signalisieren einige „Aufpasser“, daß außer den drei Fahrzeugen nichts anderes zu sehen ist – kein Bus, in den die Leute verfrachtet werden sollen, keine Carabinieri-Einheit, die eventuellen Ärger ersticken soll.
Trotzdem kommt nun erst mal kein rechtes Gespräch mehr in Gang. Touland, dem zwar die Einfahrt der hohen Herren entgangen ist, nicht aber die plötzliche Ruhe, kuschelt sich noch enger an Albika, die tapfer ihre Tränen hinunterkämpft und sagt: „Uns werden sie als letzte wegschicken, tesorino“ – sie sagt das italienische Wort für Schätzchen – „wir dürfen noch beisammenbleiben.“
Angelo kommt zurück: „Waren nur Beamte des Rechnungshofs“, hat er über den „Latrinenfunk“ erfahren, die sich irgendwelche Zahlungslisten ansehen wollten – „damit die armen Schlucker hier ja nur keine Lira zuviel kriegen“, sagt er bitter. Wenig später kursiert jedoch eine andere Version: Bei der Überprüfung der Listen hatte sich ergeben, daß die „Bevölkerung“ des Camps zwar konstant geblieben war, doch angeblich hatte jemand an den eingetragenen Namen herumgefummelt – einige Dutzend neuer sind aufgetaucht und über die alten Namen gemalt worden. Eine Überprüfung hat ergeben, daß diejenigen mit den übermalten Namen noch alle im Lager leben, die Personen mit den neuen Namen aber nicht aufzutreiben sind. Angelo vermutet, daß da wohl eine „heimliche“ Neuaufnahme vorgesehen war: Albaner, denen es „draußen“ als Illegale zu heiß wurde und die nun über das Lager „regulär“ in die Heimat zurückwollen; für umgerechnet etwa 2.000 Mark sei auch das zu bewerkstelligen. Die Polizeiaktion hat diese Einschleusung wohl verhindert. Ob das Gerücht mit der Manipulation überhaupt stimmt, läßt sich nicht ermitteln, jedenfalls hat es bereits früher solche Vorfälle gegeben.
Touland hat sich inzwischen von seiner Freundin gelöst und spielt mit ein paar Autos – immer dasselbe Spiel: Er stellt eines der Autos in die Zimmermitte und versucht es mit den anderen, die er von der Ecke her anschubst, zu treffen. „Er guckt nicht fern, er spielt nicht Fußball, nichts, nur das mit den Autos macht er“, sagt Angelo. Allerdings habe er einmal mit Puppen zu spielen begonnen, aber als ihn seine Kameraden hänselten, er sei ein Weibsbild, habe er es aufgegeben.
Plötzlich wird es draußen doch lebendig: Zwei Einsatzwagen von Carabineri sind vorgefahren, etwa 20 Uniformierte steigen aus. Sofort bildet sich eine Art Kordon: vornedran diejenigen, die sich sicher wähnen, weil ihre Aufenthaltserlaubnis hieb- und stichfest ist, weit im Hintergrund andere, die sich da nicht so ganz sicher sind, „mancher davon hat wohl seinen Erlaubnisschein über Bestechung erhalten und weiß nun nicht, ob er auch regulär ist“, sagt Angelo. Die Toiletten sind mit einem Mal vollbesetzt – „die einen verstecken sich, die anderen kotzen“, sagt Lehrerin Pasquira, „an Tagen, wo derlei passiert, bekommen die meisten sowieso Durchfall“. Angelo seufzt: „Lageralltag mitten im Frieden und mitten im ,humanen‘ Europa.“
Der Polizist kehrt zurück, macht eine beruhigende Geste: „Passiert nichts, es werden nur einige Ausbesserungsarbeiten vorgenommen, und in dieser Zeit sind große Teile der Umzäunung offen.“ Daher die Carabineri. Angelo atmet auf: „Das Schlimme ist, daß hier im Lager und auch seitens der Behörden eigentlich alle den Albanern wohl wollen. Es gibt keine Übergriffe, keinen Rassismus, keine Bosheiten, auch kein dummes Gerede, daß wir hier Fremde aushalten auf unsere Kosten. Das Problem ist wirklich nur, daß die Angst, zurück zu müssen nach einem halben oder ganzen Jahr Ruhe und physischer Sicherheit, alles zerstört.“ Der Polizist nickt. „Wenn wenigstens unsere Jungs noch drüben wären.“
Doch die unter italienischer Leitung im Frühjahr ausgesandte „Friedenstruppe“ ist längst mehr oder weniger auf Zehenspitzen zurückgekehrt (leise, weil man nach den Skandalen um die Mißhandlung von Somaliern bei der vorangegangenen italienischen „Friedensmission“ fürchtet, es könne auch im Land der Skipetaren Übergriffe gegeben haben – was wohl nicht der Fall ist). Nur 200 „Berater“ sollen noch beim Aufbau einer regulären Polizei, der Restrukturierug des Militärs und, vor allem, bei der Wiederherstellung funktionstüchtiger Gefängnisse helfen.
Touland fragt, ob er mal in den Hof raus darf – eine merkwürdige Frage, tollen doch viele Kinder draußen herum. Angelo bemerkt das Erstaunen: „Natürlich darfst du“, sagt er zu ihm, dann zu uns: „Ich muß gleich hinter ihm her. Er versucht ab und zu einfach abzuhauen, einmal haben wir die ganze Nacht nach im gefahndet.“ Dann sucht er auf dem Boden herum, bis er fündig wird: „Nein, er wird nicht weggehen. Er hat die Autos hiergelassen.“
Die Autos sind nämlich für ihn, was für andere Kinder das Schmusekissen ist – oder die Brust der Eltern, wenn Unglück droht. Touland hat nur seine Autos und keine Aussicht auf Eltern.
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