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"Der Druck für mehr Lohn wächst"

■ Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte über die Unzufriedenheit in den Betrieben angesichts der wirkungslosen Beschäftigungspolitik und über eine rot-grüne Bundesregierung: "Rot-Grün ist kein Schreckgespenst m

taz: Herr Schulte, Sie haben kürzlich eine Art Ultimatum formuliert: Wenn die Trendwende am Arbeitsmarkt ausbleibe, sei auf seiten der Gewerkschaften eine „Neuorientierung ihrer Tarifpolitik“ fällig. Was heißt das?

Dieter Schulte: Unsere Tarifpolitik war doch in den letzten Jahren vor allem dadurch geprägt, über Tarifverträge Beschäftigung zu sichern. Bei den Lohnzuwächsen haben wir uns bewußt zurückgehalten, um Spielräume für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik zeigt, daß unsere Erwartungshaltung von den Arbeitgebern enttäuscht wurde. Wenn die Gegenleistung weiter ausbleibt, führt das zwangsläufig dazu, daß die Beschäftigten irgendwann einmal sagen, jetzt ist Schluß, denn unsere Lohnzurückhaltung sollte der Schaffung von Arbeitsplätzen dienen und nicht der Erhöhung der Gewinne.

Auch der Monat August hat mit knapp 4,4 Mio. Arbeitslosen einen neuen Nachkriegsrekord gebracht. Von Trendwende ist nichts zu spüren. Kommt jetzt die Lohnwende in der Tarifpolitik?

In den Betrieben wächst der Druck in diese Richtung. Aber wir dürfen nicht resignieren, denn die Instrumente sind da, um zu mehr Beschäftigung zu kommen. Beispiel Überstunden: Würden die 1,8 Milliarden Überstunden nennenswert abgebaut, entstünde relativ schnell eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze. Zweites Beispiel: Auch die Ausweitung der Teilzeitarbeit bietet Beschäftigungsperspektiven, aber die Unternehmen verharren in alten Schemata und zeigen keinerlei Flexibilität. Beispiel drei: Weiter bringen würde uns zudem eine flächendeckende Regelung zur Altersteilzeit. Das sind alles unmittelbar umsetzbare Initiativen, die die Arbeitgeber nur mit uns gemeinsam angehen müßten. Ich bin das Gejammer der Arbeitgeber langsam leid.

Diese Forderungen erheben Sie nun schon seit fast zwei Jahren, ohne daß sich was Entscheidendes getan hätte.

Langsam! Da muß man differenzieren. Das Altersteilzeitmodell ist noch gar nicht so alt. Neben einigen Betriebsvereinbarungen gibt es bisher in der Chemiebranche und im Energieversorgungsbereich entsprechende Tarifverträge. Und zur Zeit verhandelt die IG- Metall in Baden-Württemberg darüber.

Rechnen Sie mit einer Einigung?

Ich gehe davon aus, daß es ein akzeptables Verhandlungsergebnis geben wird.

Vor dem Verhandlungsbeginn in der vergangenen Woche sah es noch eher nach Konflikt und Arbeitskampf aus.

Ich kann eine solche Entwicklung nicht ausschließen. Aber da alle Beteiligten sich zu dem Ziel bekennen, älteren Menschen den Vorruhestand zu ermöglichen, damit jüngere eine Chance bekommen, kann mir keiner mehr erzählen, warum ein tragfähiger Kompromiß nicht möglich sein soll.

Wären die Gewerkschaften in der Lage, Altersteilzeit zu erzwingen?

Wenn die andere Seite sich den Sachargumenten verweigert, bleibt den Gewerkschaften nur die Alternative, die Mitglieder entscheiden zu lassen, ob das ein Streikziel ist. Ich denke, daß das Konzept den Interessen unserer Mitglieder und ihrer Kinder gleichermaßen Rechnung trägt und deshalb im Konfliktfall auch ihre volle Unterstützung erfahren würde.

IG-Metall-Chef Klaus Zwickel setzt neben der Altersteilzeit auf die weitere Verkürzung der Wochenarbeitszeit – Richtung 32 Stunden. Sie haben darauf sehr reserviert reagiert. Warum?

Es gibt keinen Königsweg bei der Arbeitszeit. Die Lebensarbeitszeit wird auch durch Altersteilzeit, Teilzeit und Überstundenabbau neu gestaltet.

Die Frage ist, auf welcher Wochenstundenbasis die Modelle umgesetzt werden. Sind es 38, 35 oder 32 Stunden?

In vielen Bereichen sind wir noch ziemlich weit weg von der 35-Stunden-Woche. Diese große Bandbreite in den verschiedenen Branchen wird es auch künftig geben. Für mich ist entscheidend, daß wir die genannten Instrumente endlich mit den Arbeitgebern umgesetzt bekommen.

Gegen die 32-Stunden-Woche laufen die Arbeitgeber schon Sturm. Von einem „Todesstoß für ein Drittel der Branche“ ist die Rede. Ohne Arbeitskampf dürfte dieses Ziel kaum erreichbar sein.

An der Arbeitszeitverkürzung führt kein Weg vorbei. Wer sich hier verweigert, wird unsere Konsequenzen zu spüren bekommen.

Die Unternehmer klagen fast jeden Tag über zu starre Tarifverträge. Sie wollen die betriebliche Gestaltungsmacht auch bei der Lohnhöhe. Die IG Chemie hat inszwischen einer weitreichenden Öffnungsklausel zugestimmt, die Lohnsenkungen auch zur Verbesserung der allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit zuläßt. Hat diese Regelung für Sie Pilotcharakter?

Wir haben es hier mit einer sehr stark branchenbezogenen Lösung zu tun. Von einem Modellcharakter würde ich deshalb nicht reden. Einzelne Elemente dürften dagegen auch für andere Gewerkschaften interessant sein.

Ihr Plädoyer, den „Flächentarifvertrag stärker auf die Beschreibung von Rahmenbedingungen zu beschränken“, hat Ihnen von IG- Metall-Vorstandsmitgliedern reichlich Ärger gebracht. Von „irreführenden“ und „schädlichen“ Aussagen war da die Rede. Deutet sich da ein Linienkampf an, oder sind das alles nur Mißverständnisse?

Weder noch. Alle meine Diskussionsbeiträge zu diesem Thema haben nur ein Ziel: Ich will die Verläßlichkeit von Tarifverträgen erhalten und weder die Fragen der Lohnhöhe noch die der Arbeitszeit zum Spielball betrieblicher Interessen machen. Aber ich will auch nicht, daß die Realität unsere Beschlußlage überholt. Man kann doch nicht die Augen davor verschließen, daß zum Beispiel in Ostdeutschland viele Bereiche gar nicht mehr tarifgebunden sind. Wenn wir die zurückgewinnen wollen, müssen wir neue Antworten finden und neue Wege beschreiten, die auch die Arbeitgeber mitzugehen bereit sind.

Es gebe „Elemente des US-Jobwunders, die man auch in Deutschland anwenden kann“, haben Sie nach Ihrer USA-Reise gesagt. Welche?

Ich denke dabei vor allem an eine Kofinanzierung bei gewissen Dienstleistungen, die ohne einen öffentlich subventionierten Kombilohn nicht funktionieren. In Deutschland wird das ja seit längerem unter dem Begriff „Negativsteuer“ diskutiert. Was ich aber nicht will, ist, daß Unternehmen eine Schneise für den Niedriglohnsektor schlagen, um auf breiter Front niedrigere Einstiegstarife durchzusetzen. Da mache ich nicht mit. Damit wir praktikable Lösungen hinkriegen, sollten wir jetzt zusammen mit den Arbeitgebern und anderen Beteiligten in gemeinsamen Arbeitsgruppen die möglichen Felder für den Kombilohn festlegen und dann für eine möglichst schnelle Umsetzung sorgen.

Halten Sie die von Kanzler Kohl verkündete Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 angesichts der aktuellen Zahlen noch für möglich?

Wenn wir die genannten Instrumente konsequent nutzten, wäre das Ziel immer noch zu erreichen. Da die Arbeitgeber und die Bonner Regierung die notwendigen Schritte aber nicht mit uns zu gehen bereit sind, sehe ich derzeit schwarz. Wenn es so weitergeht wie bisher, können die Hoffnungen nur enttäuscht werden.

Im nächsten Jahr stehen Bundestagswahlen an. Hoffen Sie darauf, daß eine rot-grüne Koalition die Dinge in Ihrem Sinne regelt?

In bestimmten Feldern, zum Beispiel beim Überstundenabbau, ist die Politik gar nicht gefragt. Hier müssen und können die Arbeitgeber sofort handeln. Das von einigen aus unseren Reihen geforderte gesetzliche Überstundenverbot wird es nach meiner Überzeugung ohnehin nicht geben. Das will keine Partei und deshalb hilft der Ruf nach der Politik hier auch nicht weiter. Trotzdem sage ich ganz deutlich: So wie diese Bundesregierung zur Zeit agiert, bleibt uns zur Durchsetzung unserer beschäftigungspolitischen Ziele gar nichts anders übrig, als uns auch Allianzen jenseits dieser Bundesregierung zu suchen. Wie es aussieht, wird die Bonner Koalition bei Beibehaltung ihres unsozialen Kurses künftig auch nicht mehr die Mehrheiten im Volk finden.

Sehen Sie dem Wahltag nur mit gespannter Erwartung entgegen, oder werden Sie auch offensiv für eine andere Mehrheit streiten?

Wir werden als Gewerkschaften alle Parteien nicht nur an ihren Wahlprogrammen messen, sondern sehr genau die praktizierte Politik öffentlich zum Thema machen. Für nicht richtig hielte ich es, wenn wir uns explizit zur Unterstützung einer Partei entschlössen.

Für eine Koalition?

Ich habe mich schon früher gegen eine große Koalition ausgesprochen. Zahlenspiele dieser Art helfen ohnehin nicht weiter. Wir müssen immer wieder unsere Sachthemen ins Gespräch bringen. Wenn wir dafür die Menschen gewinnen, hat das auch Folgen für ihr Wahlverhalten. Eine konkrete Wahlempfehlung ist da absolut überflüssig.

Schrecken würde eine grüne Regierungsbeteiligung in Bonn die Gewerkschaften aber nicht mehr?

Ach was. Rot-Grün hat als Schreckgespenst längst ausgedient. Interview: Walter Jakobs

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