: Die Scheichin der Gasse
Die Schneiderin Sana' ist Friedensrichterin in einem Kairoer Slumviertel. „Eine Frau, die Hunderten von Männern gleichkommt“ – besucht ■ von Karim El-Gawhary
Gelassen zieht Sana' an ihrer Wasserpfeife und läßt ihren Blick zufrieden über die heutigen Besucher schweifen. Im Vorzimmer ihrer Schneiderei ist ein Kreis von Stühlen und Sesseln rund um ihren Schreibtisch aufgestellt. Ein Raum – wie geschaffen für Audienzen. Die Aufwartung, vorzugsweise ihrer Nachbarn, kommt nicht von ungefähr. Sana' gilt als lokale Friedensrichterin und Sozialarbeiterin in einem – die Scheichat al-Hara – die Scheichin der Gasse, wie diese Funktion auf arabisch heißt. Eine respektvolle Position, die normalerweise ausschließlich Männern vorenthalten bleibt. Aber Sana' wird von den Menschen hier als eine „Sit bi-miat ragil“ angesehen, eine Frau, die Hunderten von Männern gleichkommt.
Ihre unumstrittene Einflußsphäre erstreckt sich über mehrere unasphaltierte staubige Gassen im Kairoer Armenviertel al-Waraaq am westlichen Nilufer, dort wo sich endlose Kilometer ungeplanter wilder Bauten langsam zu den landwirtschaftlichen Feldern rund um die Stadt lichten. Es ist eine Mischung von Einwanderern aus den ländlichen Gebieten aus ganz Ägypten, die sich hier in den letzten 20 Jahren niedergelassen haben. Bekannt ist das Viertel für seine Stuhlfabrik und seine zahllosen kleinen Autowerkstätten, Schreinereien und Klempnereien.
al-Waraaq ist typisch für derartige ärmliche Wohngegenden in und rund um die Stadt, die inzwischen 40 Prozent des gesamten Stadtbildes ausmachen. Vor allem in den letzten Jahren hatten diese Armenviertel Hochkonjunktur. In den 80er Jahren wurden mehr als drei Viertel aller Neubauten Kairos ohne weitere Planung „illegal“ in solchen Vierteln errichtet. In Giza, dem Teil Kairos auf der westlichen Nilseite, dort wo auch al- Waraaq liegt, lebt inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Die Menschen dort sind beschäftigt mit ihrem täglichen Überleben und mitunter geht es auch untereinander recht rauh zu bis hin zu den täglichen lautstarken, manchmal sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen auf offener Straße. Wenn es überhaupt nicht mehr weitergeht, dann enden die Dinge in al-Waraaq oft in Sana's kleiner Schneiderei. Die verwandelt sich dann je nach Lage der Dinge schnell in einen lokalen informellen Gerichtssaal oder ein Sozialamt.
Zuständig für Schlägereien und Geldprobleme
Sana' ist die örtliche Frau für alle Fälle. Wenn ein Paar sich scheiden lassen will, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, wenn es darum geht, jemanden aus der lokalen Polizeistation herauszuholen oder wenn ein Nachbar für seine Krebsoperation dringend Geld benötigt – Sana' ist stets zur Stelle. Geduldig hört sie den Geschichten über die Höhen und Tiefen des Ehelebens zu und bietet gute Ratschläge. Stur beharrt sie darauf, daß die Klage, die gerade auf der Polizeiwache eingereicht wurde, wieder zurückgezogen wird. Ohne Zögern initiiert sie eine Geldsammlung, um die Krankenhausrechnung zu begleichen.
Jemand wie Sana' war nicht einfach im verarmten Großstadtdschungel Kairos zu finden. Viele der sozialen Netze aus der Zeit, als die heutigen Viertel noch kleine Dörfer waren, existierten nicht mehr. Der konstante Fluß von Neuankömmlingen aus ganz Ägypten, die sich nicht gegenseitig kennen, hat aus den ehemaligen Dörfern häufig anonyme Viertel werden lassen, in denen die einzige Unterstützung aus den Reihen der eigenen Familie kommt. Sana' scheint nicht die Norm zu sein, das gilt um so mehr für ihr Alter und Geschlecht.
Trotzdem begegnen die Menschen der nur 35jährigen mit Respekt – selbst jene von der harten Sorte. Zu diesen Hartgesottenen gehört die kräftige Hosna. Ihr Körperbau, dem eines Kühlschranks nicht unähnlich, läßt stets angstvolle Bewunderung aufkommen. Jeder, der eine Rechnung offen hat, kann sie kurzerhand anheuern, damit sie es dem Opponenten auf der Straße vor allen Leuten einmal so richtig zeigt. Auch hat sie die Fähigkeit, an drei verschiedenen Stellen gleichzeitig einen Volksauflauf zu produzieren. „Hosna kann drei Straßen gleichzeitig schließen“, sagen die Leute dazu. Noch immer macht die Geschichte die Runde, als ein junger Mann versuchte, gegen sie zu konkurrieren. Hosna schlitzte sein Bein auf, das anschließend mit nicht weniger als 14 Stichen wieder zusammengeflickt werden mußte.
Die Dinge gerieten etwas außer Kontrolle und Sana' mußte eingreifen, um Hosna vor einem Leben hinter Gittern zu bewahren. Seitdem geht die Schlägerin zwar immer noch ihren Geschäften nach, aber aus den größeren Geschichten hat sie sich in den letzten zwei Jahren herausgehalten. Statt dessen wurde sie zum regelmäßigen Gast in der Schneiderei – Sana', die Bewährungshelferin.
„Ich bin in diese Position hineingewachsen, weil die Leute mit meinen Urteilen und Entscheidungen zufrieden waren“, erklärt sie. Nicht nur ihre sieben Geschwister auch ihre Nachbarschaft spricht von ihren „Ain al-Qabul“ – ihren Augen, die man einfach akzeptieren muß – oder anders gesagt, von ihrer Überzeugungskraft. Aber ihre „magischen“ Augen und ihre unerschöpfliche Energie dürfte nicht der einzige Grund sein, warum sich die Nachbarschaft ihr zuwendet. Es liegt wohl auch an ihrer Unabhängigkeit: Seit zehn Jahren geschieden und ohne Kinder, hat sie es im Vergleich zu ihrer Umgebung zu bescheidenem Wohlstand gebracht.
Während ihr Großvater sich noch als Lastenschiffer auf dem Nil verdingte, kam ihr Vater aus dem südägyptischen Assiut in die Hauptstadt und zog dort ein einfaches Bauunternehmen auf. Seinen Gewinn investierte er in kleine Stücke billigen Bodens in der damals ländlichen Umgebung Kairos, als der Quadratmeterpreis nicht über ein paar Groschen hinausging. Das dreistöckige Haus, das heute Sana's Schneiderei beherbergt, gehört zum Familienbesitz.
Sana's erstes eigenes Projekt lief ganz passabel. Es war ein Reisebüro, das sich auf Fahrten für Arbeitsemigranten in die reichen Golfstaaten spezialisiert hatte. Mit dem Beginn ihrer Ehe gab sie das kleine Geschäft allerdings auf und kaufte sich von dem Erlös ein paar Parzellen Land. Sana' kam kaum über die Flitterwochen hinaus. Bereits nach einem Jahr reichte das Paar die Scheidung ein. Sana' eröffnete ihre Schneiderei. Das war vor zehn Jahren. Inzwischen hält sie die Fäden verschiedenster kleinerer Geschäfte in Händen.
Oft sind es nicht die Streitigkeiten zwischen den Nachbarn, die es zu lösen gilt. Die staatlichen Dienstleistungen wie Wasser, Abwasser oder die Müllabfuhr sind in den „illegalen“ Vierteln wie al- Waraaq bis heute noch eines der Hauptprobleme. Sana' organisiert kleinere Kampagnen, in denen sich die Nachbarschaft etwa über eine geplatzte Abwasserleitung oder die sporadisch vorbeigeschickte Müllabfuhr bei offiziellen Stellen beschwert. „Es ist ja bekannt, wo solche Beschwerden zunächst enden. Zuerst im Papierkorb und dann in der Schublade. Also will derartiges gut organisiert sein“, beschreibt sie ihr beharrliches Rezept. Sicher ist auch, daß Sana's gute Familienkontakte zu den lokalen staatlichen Autoritäten gelegentlich die Dinge beschleunigen.
Ihre besondere Aufmerksamkeit schenkt Sana' den Mädchen und jungen Frauen in ihrem Viertel. Sie gehören zu den Stammgästen in ihrer Schneiderei. „Ich habe um die dreißig Kinder, wenngleich nicht meine leiblichen“, witzelt sie und deutet auf mehrere Frauen, die schon den ganzen Nachmittag einen Großteil der Szene in der Schneiderei beherrschen. Manchmal finanziert Sana' deren Ausbildung oder hilft ihnen, eine billige Wohnung zu finden, um heiraten zu können. Kein einfaches Unterfangen in Kairo, wo die immer währende Wohnungsnot zu astronomischen Immobilienpreisen geführt hat. In einem Fall streckte Sana' die Kaution vor und kaufte eine Schlafzimmergarnitur für ein junges heiratswilliges Paar. „Sie sind immer noch glücklich verheiratet“, lächelt die Kupplerin Sana'.
Den Islamisten war Sana' von Anfang an suspekt
Aber ihre Position als „sitt al- Kull“, als „Frau für alles“, wurde nicht immer von allen Seiten anerkannt. Den Islamisten vor Ort, wie etwa den „gama'at al-Islamiya“, den radikalen „Islamischen Gruppen“, war eine Frau wie sie von Anfang an suspekt. Es war schwer, aus dieser Frau schlau zu werden, die „züchtig“ in einem Kopftuch gekleidet die Straße hinunterschreitet, aber in ihrem Büro – Gott vergebe – vor allen Augen blasphemisch die den Männern vorbehaltene Wasserpfeife schmaucht. „Ich hatte mit ihnen einige religiöse Diskussionen, in denen ich beweisen konnte, daß ich von Religion genausoviel verstehe wie sie“, blickt Sana' zurück. Und was das orientalische Rauchgerät angeht: „Ich bin nicht ihnen, sondern Gott gegenüber rechenschaftspflichtig.“ Man scheint in gegenseitigem Respekt auseinandergegangen zu sein.
Sana' glaubt an den Koran und an den Kaffeesatz
Sana' beschreibt sich selbst als tief gläubig, doch mit dem sich verbreitenden religiösen Konservativismus kann sie wenig anfangen. „Wenn ich in Alexandria am Strand bin, gehe ich im Badeanzug ins Wasser, wenn ich hier über die Straße gehe, trage ich alles verdeckende Kleider, gerade wie es mir gefällt.“ Ihr Glaube scheint eine Mischung aus Volksislam und einer guten Portion Schicksalsgläubigkeit zu sein. „Dein Herz ist voller Traurigkeit“, analysiert sie den Kaffeesatz einer Besucherin tiefsinnig. Manchmal legt sie auch Karten oder präsentiert ihr fundiertes Wissen über Sternzeichen. Ihre Religiosität bleibt wichtigstes Motiv für ihre Sozialarbeit. Aktivitäten, die, so glaubt sie, „eines Tages von Gott belohnt werden“.
Und wie steht es heute mit Männern in ihrem Leben? Sie winkt ab, als wolle sie diesen Gedanken schnell wegwischen. „Ich habe keine Zeit für Romantik. Ich habe Wichtigeres zu tun“, gibt sie preis. Und überhaupt – Sana' lacht: „Die meisten von ihnen können mir ohnehin nicht das Wasser reichen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen