: Politische Aktion ist gut, eine Sammelklage ist besser
Milliarden Schmerzensgelder und Schadensersatz zahlen US-Firmen an angeblich Geschädigte. Von der Freude an Zivilprozessen ■ Aus Washington Peter Tautfest
Dreizehn Milliarden Dollar zahlt die Tabakindustrie dem Bundesstaat Florida. 360 Milliarden sollen es für eine bundesweite Regulierung der Ansprüche aller mittelbar und unmittelbar vom Tabakqualm Geschädigten sein. Dow Corning, Herstellerin von Brustimplantaten aus Silicon, bot 2,4 Milliarden Dollar ihrer 3,7 Milliarden Konkursmasse, um die Ansprüche von 200.000 Frauen zu regulieren, deren Klagen sie in den Bankrott getrieben hatten. 2,7 Millionen Dollar Schadensersatz erhielt 1995 Stella Liebeck, die sich bei McDonald's einen heißen Kaffee gekauft hatte, den Becher zwischen den Knien haltend losgefahren war und sich dabei Oberschenkel und Schamlippen verbrüht hatte.
Forum gesellschaftlicher Auseinandersetzung
Was haben diese Schadensregulierungen miteinander gemein? Nicht erst die unvorstellbar hohen Summen lassen sie frivol wirken. Es soll doch heute niemand erzählen, er habe nichtsahnend zu Zigaretten gegriffen und sei unwissentlich durch ein Produkt krank geworden, dessen Gefährlichkeit der Hersteller nicht ausreichend geprüft oder dem Konsumenten verheimlicht habe. Für den behaupteten Zusammenhang zwischen Brustimplantaten und den systemischen Krankheiten wie Lupus und Autoimmunkrankheiten gibt es nicht den Schatten eines wissenschaftlichen Beweises – im Gegenteil haben Studien der Harvard Medical School und der Mayo Klinik diesen Zusammenhang gerade nicht herstellen können. Und für den Umgang mit heißem Kaffee ist doch eigentlich jeder selbst verantwortlich. Zivilprozesse aber sind in den USA heute zum eigentlichen Forum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden.
Die starke Rolle der Gerichte reicht bis ins 19. Jahrhundert und geht auf die institutionelle Schwäche des US-amerikanischen Staates zurück. Im demokratischen Amerika regelten Gerichte, was im vordemokratischen Europa zum administrativen Tagesgeschäft von Regierungen gehörte. Die US-Demokratie mit ihrem ausgeklügelten System der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung macht(e) das Regieren nahezu unmöglich. Gerichten fiel schon früh die Funktion zu, Aufgaben in einem System zu erledigen, das für deren Erledigung nicht geschaffen ist, sagt Marc Silverstein, Politologe an der University of Massachusetts in Boston.
Diese Rolle haben US-Gerichte bis heute behalten, besonders in Bereichen, in denen Konsensbildung besonders schwierig ist, bei den Bürgerrechten und im Umweltschutz. Das Gesetz zur Erhaltung gefährdeter Arten zum Beispiel sieht weder eine Behörde noch Durchführungsbestimmungen vor. So muß jeweils ein Kläger vor Gericht ziehen, um ein Urteil zu erwirken – etwa die Anordnung, die Abholzung der Wälder des Nordwestens zu stoppen, um eine Eulenart zu retten.
Gerichte entscheiden leichter als Parlamente
Auch Bürgerrechte und Rassengleichheit sind in den USA ein Produkt der Rechtsprechung beziehungsweise der Allianz zwischen einem Teil des Kongresses mit der Judikativen. Stärkster Motor bei Durchsetzung der Civil Rights war der Anwaltsausschuß der Organisation zur Besserstellung der Schwarzen (NAACP). Aus ihm ging Thorgood Marshall hervor, der erste schwarze Richter am Obersten Gerichtshof, der über Jahrzehnte das Image dieser Kammer und die Erwartungen an die Gerichte bestimmte.
Richter sind weder wählbar noch absetzbar. Sie können leichter schwierige Entscheidungen treffen als die zumeist regional und ideologisch sehr heterogenen Parlamente, die keine Fraktionsdisziplin kennen, erklärt der Rechtswissenschaftler und Politologe Ben Ginsburg.
Die unterstützende Rolle der Gerichte bei der Durchsetzung weitreichender Reformen in politischen Umbruchsituationen wie dem New Deal Roosevelts und der Great Society Lyndon Johnsons schuf darüber hinaus eine starke Erwartungshaltung gegenüber dem – horribile dictu – Staat. Wo US-Amerikaner doch am liebsten vom Staat nichts wissen wollen, lernten sie gleichwohl unter starken Regierungen dessen Segnungen kennen. Eine interventionistische Rolle spielen Gerichte vor allem in Zeiten politischer Führungslosigkeit – und das betrifft alle Legislaturperioden und Regierungen nach Johnson.
Die starke Stellung der Gerichte wirkt sich auch auf das Zivilrecht aus. „Das US-amerikanische Zivilrecht ist unsere Form des Sozialismus“, sagt Marc Silverstein. In einer Gesellschaft, die kein Sozialsystem hat und für die der deutsche Verfassungsgrundsatz der Sozialpflichtigkeit des Eigentums undenkbar wäre, bindet das Haftungsrecht die Produzenten – nicht an die Gesellschaft, aber an die Konsumenten. Letztlich sind die astronomischen Summen, die Geschädigte vor Zivilgerichten erkämpfen, eine Form gesellschaftlicher Risikostreuung, die in Sozialstaaten durch die Solidargemeinschaft aufgefangen werden.
Die Anwälte verdienen meist mehr als die Kläger
Das System lädt zum Mißbrauch ein. Und der entfaltete sich durch die Schaffung der sogenannten Class Action Suit, der Sammelklage. Auch die wurde ursprünglich geschaffen, um gesellschaftlichen Gruppen wie der schwarzen Bevölkerung mit Hilfe der starken Gerichte statt der schwachen Parlamente zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber es dauerte nicht lange, bis findige Anwälte aus allen möglichen mehr oder minder zusammenhängenden Gruppen Klassen bildeten. Das können so unterschiedliche Gruppen wie die Käufer von Hundefutter oder die Empfängerinnen von Brustimplantaten sein. Ihre Erfolge gründen auf der Masse der Klagen und darauf, daß die beklagten Firmen außergerichtliche Einigungen suchen, um jahrelange Prozesse zu vermeiden.
Class Action Suites haben in den USA eine Industrie eigener Art hervorgebracht: eine hoch organisierte Vereinigung von Anwälten, die in der Regel mehr an den Regulierungen verdienen als der in einer Klasse zusammengefaßte Kläger. Diese Industrie gewinnt eine Eigendynamik und ist ständig auf der Suche nach Fällen und Klassen. Klagen wie die gegen die Tabakindustrie und die Hersteller von Brustimplantaten, die eine halbe Million Frauen vertreten, sind rechtliche Großaufträge von den Dimensionen eines Schnellen Brüters. Ihre Stärke beziehen die Anwälte aus der Allianz mit den Konsumentenvereinigungen und Umweltschutzgruppen sowie aus ihrem Reichtum, der sie zu den größten Wahlkampfspendern des Landes gemacht hat.
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