: Nach dem „struggle“ bleibt nur Leere
Als Schüleraktivist fiel Potlako Saboshego in die Hände der südafrikanischen Geheimpolizei. Seither ist er auf einem Auge blind. Was kann Vergangenheitsbewältigung da noch helfen? ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler
Ein Tag ist wie der andere. Aufstehen, ein Teller Maisbrei zum Frühstück. Fernsehen. Mittagessen, meist vor dem Fernseher. Den Nachmittag überstehen. Abendessen. Fernsehen. Zwischendurch trifft er seine Freunde. Gegenüber, vor einem kleinen Geschäft, lungern sie auf der Straße herum, trinken und rauchen. Ein Tag ist lang, wenn man nichts zu tun hat.
Potlako Saboshego will nicht so richtig in die Gruppe passen. „Echte Freunde sind das nicht“, gibt er zu. „Aber was bleibt mir noch?“ Die, die wirklich seine Freunde waren, damals, auf der Hochschule, arbeiten tagsüber. Viele haben Karriere gemacht. Das ist schwer auszuhalten für einen, der ehrgeizige Pläne hatte.
„Mein Leben ist schrecklich“, sagt Potlako emotionslos, als ob er nicht über sich selbst spräche. Nur am Zittern seiner Hände ist zu spüren, wie schwer es ihm fällt, über sich und sein Leben nachzudenken.
Sein gesundes Auge irrt durch das kleine Wohnzimmer im Haus seines Vaters. Eine Couchgarnitur, eine Stereoanlage zeugen von bescheidenem Wohlstand. Neben ihm flimmert der Fernseher. Immer. Fernsehen und ab und an mal ein Ausflug nach Johannesburg, das sind die einzigen Abwechslungen in der endlosen Monotonie seines Alltags.
Scheinbar endlos kehren auch seine Alpträume wieder, die Schlafstörungen, die Angstzustände. Nachts, da entfaltet der Horror sein Eigenleben, seit mehr als zehn Jahren. Dann stehen wieder die Schergen des Regimes vor der Haustür, wie an jenem kalten Winternachmittag im August 1986. Fünf Geheimpolizisten – drei Weiße und zwei Schwarze – verhaften ihn und nehmen ihn mit auf die nächste Wache. Sie verletzen sein rechtes Auge. Der Schmerz ist unerträglich. Dann schleppen sie ihn auf ein Feld hinter der Polizeiwache, binden ihn an einem Baum fest, foltern ihn, während sie fast bis zur Besinnungslosigkeit trinken. Der Tatort ist nicht weit weg. Fast täglich läuft Potlako an der Polizeiwache vorbei.
Erst nach vier Tagen wird Potlako Saboshego, 17 Jahre alt, pro forma einem Haftrichter vorgeführt. Einige Wochen später wird er zu fünf Jahren Haft verurteilt, wegen Aufruhrs und Besitzes von illegalem Sprengstoff. Potlakos rechtes Auge ist zerstört. Heute versteckt er es hinter dunklen Brillengläsern. Lesen kann er nur noch unter größten Mühen, Autofahren kann er nicht. Nicht einmal ein Job als Fahrer kommt da noch in Frage. „Wer stellt mich schon ein? Es gibt Millionen andere, Gesunde, die Arbeit suchen.“ Seine Stimme zittert vor Bitterkeit.
Für einen wie Potlako ist im demokratischen Südafrika kein Platz. Fast jeder zweite ist auch heute, in der neuen Ära unter Nelson Mandela, arbeitslos. Der 28jährige ist viel zu intelligent, um noch Hoffnungen zu haben. Bloß: Gerecht ist das alles nicht. Er war schließlich einer derjenigen, die dafür gekämpft haben, daß alles besser wird, daß die rechtlosen Schwarzen besser leben können. „Nein, es war nicht umsonst“, murmelt er. Bloß: Er selbst hat einen sehr hohen Preis bezahlt.
In den achtziger Jahren, als Schüler, ging Potlako Saboshego in den bewaffneten Kampf. Eine ganze Generation von Jugendlichen, die während dieses Jahrzehnts in Südafrika aufwuchs, verschrieb sich dem „struggle“, dem Kampf gegen das verhaßte weiße Regime. Heute nennt man sie die „verlorene Generation“, die nichts gelernt hat außer Aufruhr. Viele Kids aus dieser Zeit können nicht einmal lesen und schreiben. Nicht zuletzt ihretwegen waren die Townships, die künstlichen Schlafstädte für Schwarze, seit Mitte der achtziger Jahre unregierbar. Die weißen Machthaber reagierten mit Härte. Jahrelang lebte das Land im Ausnahmezustand.
Daveyton, am berüchtigten östlichen Rand von Johannesburg, ist häßlich. Die Luft ist verpestet von den großen Kraftwerken, die Strom für rund zehn Millionen Menschen produzieren müssen. Giftgelbe Abraumhügel aus den ehemaligen Goldminen machen aus der flachen Hochebene eine bizarre Kraterlandschaft. Trotzdem gibt es Schlimmeres. Die Straßen in Daveyton tragen Namen und sind sogar im Stadtplan verzeichnet, die meisten Häuser haben Strom und fließendes Wasser.
Potlako war 15, als er politisch aktiv wurde und dem radikalen Panafrikanischen Kongreß (PAC) beitrat. Das hieß vor allem, Schüleraufstände zu organisieren, Flugblätter zu drucken, Massenversammlungen abzuhalten. Terror seitens des Apartheid-Staates war an der Tagesordnung, der Unterricht wurde oft vom Militär gestört. Selbst minderjährige Schüler konnten aufgrund der geltenden Anti-Terror-Gesetze unter jedem Vorwand verhaftet werden.
Mehr als zweitausend Kinder und Jugendliche kamen während der Apartheid-Zeit gewaltsam ums Leben, fünftausend wurden verletzt, zwanzigtausend wurden ohne Verfahren verhaftet, jeder vierte davon gefoltert. Die Angst war ständig präsent.
Seine Eltern hielten zu ihm, obwohl sie selbst nicht politisch aktiv waren. Was ihr Sohn im Untergrund tat, daß er tatsächlich Sprengstoff und Handgranaten besaß, wollten sie lieber nicht allzu genau wissen. Schließlich waren da noch sechs andere Kinder, die versorgt werden mußten. Später versuchten sie alles, um sein Auge zu retten.
Ohne seine Familie, das weiß Potlako Saboshego nur zu gut, wäre er verloren. Nur weil seine beiden Eltern arbeiten, konnten die teuren Operationen in einer guten Klinik in Johannesburg bezahlt werden. Am Ende aber war alles umsonst. Das rechte Auge war für immer erblindet. All seine persönlichen Träume gehören der Vergangenheit an. Potlako war nicht einer, der nur Bomben werfen kann. 1988 wurde er nach zwei Jahren Haft vorzeitig entlassen. Noch im Gefängnis hatte er sein Abitur gemacht und wollte auf einer Fachhochschule Sozialwissenschaften studieren. Nach einem Jahr mußte er aufgeben. Es war ihm unmöglich, über längere Zeit zu lesen oder sich überhaupt zu konzentrieren. Seither sitzt er zu Hause, Tag für Tag, und lebt auf Kosten seiner Familie. Wer die Täter waren, weiß er bis heute nicht. Zwei würde er vielleicht wiedererkennen, meint er.
Ein Gerichtsverfahren verlief wie die meisten seiner Art im Sand. Wichtige Akten verschwanden einfach. Er haßt die Täter. „Sie haben mein Leben zerstört, sie haben mir all meine Würde genommen“, sagt er vor dem Gremium, das sich von Amts wegen mit der Vergangenheit befaßt. „Ich will wenigstens, daß sie aus ihren Löchern kommen und mir erklären, warum sie mir das alles angetan haben.“
Aus dem Fernsehen erfuhr Potlako, daß es die sogenannte Wahrheitskommission gibt. Er war beeindruckt und entschied sich, öffentlich auszusagen. Einmal hielt die Kommission eine Spezialanhörung für Leute wie ihn in Johannesburg ab: Jugendliche und junge Erwachsene, traumatisiert durch Südafrikas gewalttätige Vergangenheit. Potlako Saboshego ist zwar der erste an diesem Tag, aber nur einer von vielen.
Vor ihm hat Graca Machel, Witwe des früheren mosambikanischen Präsidenten und heutige Lebensgefährtin von Nelson Mandela, über ihr großes Thema gesprochen: verfolgte und traumatisierte Kinder und Jugendliche. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen vor allem therapeutische Behandlung. Doch selbst im medizinisch gut ausgestatteten Südafrika sind die Möglichkeiten für Schwarze beschränkt. Eine Traumatherapie ist für die meisten Opfer unerschwinglich. Zwar wird die Wahrheitskommission Entschädigungen zahlen, allerdings nur symbolischer Art.
Der therapeutische Wert der Kommission ist dennoch nicht gering zu veranschlagen. Seine eigene Geschichte endlich öffentlich erzählen zu dürfen, möglicherweise sogar die Täter zu finden hat eine kathartische Wirkung für viele Opfer und ihre Hinterbliebenen. „Es war furchtbar“, sagt Potlako nach seiner Aussage. Von seiner Eloquenz ist in dem riesigen Saal in der Stadthalle von Johannesburg nichts mehr übrig. Da stottert ein großer, kräftiger junger Mann wie ein kleines Kind und versteht selbst einfache Fragen vom Podium nicht. Trotz der winterlichen Kälte gerät er ins Schwitzen und vergißt doch, seine Pudelmütze abzunehmen. Hinterher ist eine große Leere in ihm – und grenzenlose Erleichterung.
An seinem Leben hat sich indessen nichts geändert. Doch: Einmal ist er bei einem Sozialarbeiter gewesen, den ihm die Kommission vermittelt hat. Daß es gerade für Fälle wie ihn in der Innenstadt von Johannesburg eine Traumaklinik gibt, die umsonst behandelt, haben ihm auch die Leute von der Kommission nicht gesagt.
Und noch etwas hat sich verändert. Er hofft wieder, gegen alle Vernunft. Hofft, daß ihm die Kommission hilft, Arbeit zu finden und die Täter vor Gericht zu bringen.
Das wird sie beides nicht tun, aber das weiß er nicht. Ersteres ist eine Überforderung, letzteres widerspricht dem innersten Prinzip der Kommission: Versöhnung durch Wahrheit, nicht durch Gerechtigkeit. Wie viele andere Südafrikaner hält Potlako es für zutiefst ungerecht, daß die Täter straffrei ausgehen. „Die haben wahrscheinlich noch ihre Jobs und leben glücklich mit ihren Familien. Sie bekommen nicht, was sie verdienen.“
Und noch etwas weiß er nicht: Die Gnadenfrist für die Täter ist abgelaufen. Zwar wurde der Stichtag für Amnestieanträge von der Regierung noch einmal verlängert. Doch alle, die bis heute in ihren Löchern geblieben sind, können jetzt theoretisch angeklagt werden. Man muß sie nur finden.
Hinter ihm flimmert immer noch der Fernseher. Zeit, eine Pause zu machen. Potlako ist erschöpft, er kann sich nicht mehr konzentrieren. Er geht hinaus, zu seinen Freunden. Sie haben schon auf ihn gewartet.
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