: "Die Psychoanalyse ist meine Welt"
■ Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich ist 80 Jahre alt geworden. Gratulationen klingen oft wie Nachrufe zu Lebzeiten. Ein Porträt einer heimlichen Großmutter der neuen Frauenbewegung
Margarete Mitscherlich hat ein Leben lang intensiv zur Geschlechterfrage gearbeitet – immer ein bißchen im Schatten ihres Mannes Alexander, mit dem sie Mitte der sechziger Jahre das Standardwerk „Die Unfähigkeit zu trauern“ verfaßte. Ihre eigenen Bücher wie „Die friedfertige Frau“ (1985) gehören zum Kanon des Feminismus. Den angeblich ewigen Phallusneid der Frauen kommentiert die 80jährige Psychoanalytikerin mit einer schlichten Frage: „Sind Penisse so etwas Schönes?“
Ach, dieser schreckliche Geburtstag“, hatte sie am Telefon, ganz unpsychoanalytisch, gestöhnt. Und dabei gelacht. Aber als wir uns einige Wochen später in ihrer Frankfurter Praxis gegenübersitzen, wiegelt sie ab. „Mit achtzig hat man sich an das Alter gewöhnt.“ Die Ungeduld in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Das Thema paßt ihr nicht. Deshalb muß sie es erst einmal erklären. „Mit vierzig kommt man sich sehr alt vor, mit fünfzig ist es eine ziemliche Katastrophe, und mit sechzig beginnt man sich daran zu gewöhnen.“ Wirklich?
Dem Ende des Lebens zuzugehen sei nicht unbedingt angenehm, sagt sie nach einer Weile, wieder milder geworden. Aber Angst, Angst vor dem Sterben habe sie nicht. Nein. „Sie fragen mich Dinge, über die ich nie nachgedacht habe“, behauptet Deutschlands bekannteste Psychoanalytikerin.
Margarete Mitscherlich ist mit Bedacht zurechtgemacht. Dezent geschminkt, die Haare getönt und die Kleidung perfekt aufeinander abgestimmt: schmale schwarze Hose, beiges Leinenhemd und ein schwarz- beige gemustertes Tuch. Eine attraktive, sehr viel jünger aussehende Frau und keine Oma, obwohl sie vierfache Großmutter ist.
Sie spricht ohne die in ihrer Zunft gewöhnliche Zurückhaltung. Und die Auskünfte über ihr Leben fallen überraschend offen, unbekümmert und unkonventionell aus.
Die Mutter war die große Identifikationsfigur. Sie schickte die halbwüchsige Tochter auf jene deutsche Schule nach Flensburg, an der sie früher selbst Lehrerin gewesen war. „Ich verging vor Heimweh“, erinnert sich Margarete Mitscherlich an das erste Jahr allein in der Fremde. „Ich war ein Mutterkind ohnegleichen.“ Aber sie hielt durch bis zur Reifeprüfung. Schließlich wollte sie auch einmal Lehrerin werden. Das stand für sie fest. Als der Vater sie vor die Wahl stellte: Studium oder Aussteuer, war sie entrüstet. Die Frage schien ihr absurd. Heiraten wollte sie „auf gar keinen Fall“.
Den Vater beschreibt sie als „früh verbrauchten, schwermütigen Mann“ und „wenig glanzvollen Vater“. Fast entschuldigend schiebt sie die Erklärung für ihre Worte gleich hinterher. Er sei sehr viel älter als die Mutter gewesen und schwer zuckerkrank. Im Jahr, als Margarete Nielsen Abitur machte, 1937, starb er. Dennoch trat die angehende Pädagogin schließlich doch in seine Fußstapfen und nicht in die der Mutter. Nach zwei Semestern wechselte sie von der Germanistik zur Medizin.
Sie sei sich heute nicht sicher, inwieweit das väterliche Vorbild sie dabei beeinflußte. „Ich weiß es wirklich nicht“, sagt sie nachdenklich, obwohl sie selbst jahrelang auf der psychoanalytischen Couch gelegen hat. Sicher ist, daß glanzvolle Vaterfiguren später für Margarete Mitscherlich eine Rolle gespielt haben, als sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Psychoanalyse Sigmund Freuds zu interessieren begann. Von der autoritären Lehre Steiners hat sie sich bald wieder distanziert.
Der Freudschen Psychoanalyse blieb sie indes treu. An dieser Lehre hält sie bis heute fest. Trotz ihrer feministischen Gesinnung, die seit Ende der sechziger Jahre an Bedeutung für sie gewann. Selbst an Freuds Theorie vom Penisneid, die zahlreichen Feministinnen als Beweis für dessen patriarchales Denken gilt, hat sie sich nie gestört. Schließlich ginge es dabei nicht um Schönheit, sondern „nur um ein Symbol für männliche Vorherrschaft“, sagt sie und fängt an zu lachen. „Ich meine, sind Penisse so etwas Schönes? Man hat ja im Laufe seines Lebens einige gesehen.“
Auch Alexander Mitscherlich war ein glanzvoller Mann, als sie ihn 1947 im schweizerischen Tessin wiedertraf. „Aber er war nicht mein geistiger Vater“, protestiert Margarete Mitscherlich. Weit weg von allem Elend und Grauen, jenseits der Grenze im Nachkriegsdeutschland verliebte sie sich in ihn – obwohl er „leider“ verheiratet war.
Nein, moralische Skrupel hätte sie nicht gehabt, ein Verhältnis mit ihm einzugehen, wundert sie sich über die Frage. „Man war unter südlichen Palmen mit einem Mann zusammen, den man anziehend findet. Dann sagt man sich, mein Gott, du hast dir noch nie eine Affäre geleistet...“
1949 wurde der gemeinsame Sohn Mathias geboren. Und damit begann eine „schwere Zeit“ in ihrem Leben, über die Margarete Mitscherlich, wenn über- haupt, nur zögernd spricht: die Trennung von ihrem Kind, die ihr „wahnsinnig schwer“ gefallen sei. Die ersten Jahre verbrachte der Kleine bei ihrer Mutter in Dänemark, während sie Geld verdienen mußte, um ihre psychoanalytische Ausbildung weiterzuverfolgen. Zunächst in Stuttgart, später auf Empfehlung ihres späteren Mannes Alexander Mitscherlich bei Michael Balint in London.
Damals hatte sie das Gefühl, „das Zentrum der geistigen Welt“ erreicht zu haben. Dort wirkten Anna Freud und Melanie Klein und andere jüdische Emigrantinnen und Emigranten, die ihr „ungeheuer imponierten“ und intellektuelles Futter boten. Das hatte sie lange entbehrt. Aber dort war sie auch einsam wie nie zuvor. „Ich kannte keinen Menschen, ich war mutterseelenallein.“
Mitte der fünfziger Jahre begannen sich ihre persönlichen Verhältnisse zu ordnen. Alexander und Margarete Mitscherlich konnten endlich heiraten. Es folgten zahlreiche Auslandsreisen und Kontakte mit Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich ist 80 Jahre alt geworden. Gratulationen klingen oft wie Nachrufe
zu Lebzeiten. Ein Porträt einer der heimlichen Großmütter der neuen deutschen Frauenbewegung Von Heide Soltau
„Die Psychoanalyse ist meine Welt“
Analytikern und anderen Intellektuellen in aller Welt. Und die gemeinsame Arbeit an ihrem Lebensthema: die intensive Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich und dem Umgang der Deutschen mit ihrer Nazivergangenheit. Doch berühmt wurde nur einer aus dem Hause Mitscherlich: Ehemann Alexander. Dennoch habe sie nie im Schatten ihres Mannes gestanden, erklärt sie ungefragt.
Als Anhängsel möchte sie aber nicht gesehen werden, das ist ihr wichtig. Ihm aber sei das Schreiben leichter gefallen, deshalb hätte er mehr publizieren können. Aber das erklärt nicht, warum sie ihr berühmtestes Buch „Die friedfertige Frau“ erst nach dem Tod Alexander Mitscherlichs geschrieben hat. Waren es wirklich nur Zeitgründe, die sie vom Schreiben abgehalten haben? „Ja“, glaubt Margarete Mitscherlich. Ja.
Im übrigen habe sie sich bereits als Feministin gefühlt, lange bevor es hierzulande überhaupt eine Frauenbewegung gab, sagt sie selbstbewußt. Lange wurde sie zwischen alle Stühle gesetzt. Etliche Analytikerkollegen haben ihrer Kollegin Mitscherlich sowohl das Engagement für die Frauenbewegung als auch ihre Artikel für die Emma übelgenommen – während Feministinnen ihr mangelnde Radikalität vorwarfen.
Margarete Mitscherlich ficht das nicht an. „Sobald etwas zur Weltanschauung wird“, sagt sie, reagiere sie empfindlich. Selbständiges Denken steht für sie an oberster Stelle, Gruppenzwang jeglicher Art lehnt sie ab. Wenn sie von einer Sache überzeugt ist, bleibt sie ihren Grundsätzen treu. Sie versuche es zumindest, sagt sie selbstkritisch. Und sagt erfrischend offen: „Sich wirklich von dem zu befreien, was andere von einem denken, das wäre schon schön.“
Und dann, wieder ganz Psychoanalytikerin: „Aber man will halt geliebt werden, das ist ja das Idiotische.“ Und wer ist schon frei davon? Auch eine Psychoanalytikerin nicht.
„Die Psychoanalyse war meine Welt“, erklärt sie, nun plötzlich in einem ganz anderen, offizielleren Ton. „Das Wort ist etwas, das den Menschen zum Menschen macht“, das begründe die Überlegenheit der Psychoanalyse gegenüber anderen therapeutischen Verfahren. Sagt sie. Und zitiert den Anfang des Johannes-Evangeliums: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort.“ Etwas verbalisieren zu können erleichtere das Verstehen der eigenen Konflikte und Aggressionen. Wenn die Gefühle stärker würden als das Denken, gehe jede Kultur zugrunde. „Die Sprache ist der Beginn jeder Weiterentwicklung.“
Vor dem Haus tuckert ein Müllwagen. Margarete Mitscherlich erhebt sich und geht vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, zum Fenster. Ein kurzer Moment des Zögerns, eine winzige Unsicherheit, dann hat sie sich gefangen und drückt mit einem energischen Ruck die Balkontür zu. „Daran merkt man auch, daß man älter wird. Man spürt seine Knochen“, lächelt sie, schon auf dem Rückweg zu ihrem Sessel. Wenn sie länger gesessen habe, müsse sie erst wieder in Schwung kommen.
Die Fragen zum Alter hätten sie durcheinandergebracht, sagt sie dann und kommt auf den Anfang unseres Gesprächs zurück: „Damit haben Sie mich natürlich getroffen.“
Psyche, die „Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, widmet die jüngste Ausgabe ihrer Herausgeberin: Margarete Mitscherlich zum 80. Geburtstag (mit Beiträgen von Jan Philipp Reemtsma, Volkmar Sigusch, Karola Brede, Mario Erdheim, Reimut Reiche, Werner Bohleber, Rolf Vogt), Klett- Cotta, Stuttgart 1997, 36DM.
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