: Straßenkampf auf eigene Rechnung
Serie „Stets zu Diensten“ (4): Beim „messenger“-Kurierdienst mit formal selbständigen Radfahrern hat die Gewerkschaft keine Chance. In Ablegern alter Großbetriebe dagegen gibt es einen Betriebsrat ■ Von Peter Sennekamp
Tödlichen Tribut forderte die Dienstleistungsgesellschaft. Der Fahrradkurier wurde zu drei Monaten Haft auf Bewährung und 3.000 Mark Geldstrafe verurteilt, weil er, so die Richterin, eine alte Frau rücksichtslos umgefahren habe. Die Frau starb. Die Dienstleistung des Kuriers: schnellstmöglicher Transport eines Päckchens und Minimierung aller Zeitverluste.
Zwei Jahre später, 1994, endete der Kampf gegen die Zeit für eine „messenger“-Botin unter der Achse eines abbiegenden Lastwagens. Auch sie überlebte nicht.
Es ist Freitagnachmittag, und bei messenger legt sich langsam die Bienenhausatmosphäre. Wenige der 138 Boten fliegen ein oder aus. Alle sind selbständige Subunternehmer der Messenger Transport Logistik GmbH – Straßenkampf auf eigene Rechnung. Die Biker können selbst entscheiden, ob sie sich gegen Krankheiten versichern und in die Altersvorsorge einzahlen oder nicht. Auch beim Finanzamt machen sie trotz vergleichsweise geringer Einkünfte einen akzeptablen Schnitt, weil sie als Selbständige viele Ausgaben von der Steuer absetzen können.
Unübersehbar prägen die rasanten Biker seit 1989 das Straßenbild. „Nein, eine Gewerkschaft brauchen wir hier nicht“, klärt Teilzeitfahrer Thorsten Miesel auf, „alle drei Monate haben wir ein Fahrermeeting, da wird alles besprochen.“ Die Stories vom großen Geldverdienen hält er für Unsinn: 2.000 Mark brutto kassieren die Kuriere in einem schlechten Monat. In guten Monaten kommen 4.000 Mark oder mehr herein. „Die schlechten Phasen im Sommer und die guten zu Weihnachten muß man miteinander verrechnen“, weiß Miesel. Das körperliche und finanzielle Risiko ist groß. „Aber“, so Miesel, „du mußt die Angst beim Fahren abschütteln.“ Einige Fahrer bekommen Knieprobleme, doch wenn sie ohne Ausfallversicherung pausieren müssen, gibt's kein Geld.
Das messenger-Team ist jung – Uni-Absolventen ohne feste Stelle, die smart genug sind, Minuten und Sekunden ihrer Rennstrecken in Einklang mit der Auftragslogistik zu bringen. Fast nur Männer sind sie, mit muskulösen Beinen – wollen nicht ewig Bote bleiben, sprechen ganz bewußt vom „Job“ und nicht vom Beschäftigungsverhältnis. „Es sind wenige, die als Kurier bis vierzig durchhalten“, weiß Miesel.
Als (Schein-)Unternehmer suchen sie die Ad-hoc-Lösung für alle Probleme: Meetings für die Änderung der Gewinnbeteiligung von 66 auf 68 Prozent pro Auftragssumme, Einzelbesprechungen für Disponentenprobleme zwischen Zentrale und Kurier. Für die Subunternehmer sind Betriebsräte, Gewerkschaften und Tarifverträge Fremdworte. Die Nähe zum Chef („Du, ich muß dich mal sprechen...“) verbietet schon mental den Gedanken an eine organisierte Mitarbeitervertretung. Das Bewußtsein der befristeten Verweildauer im Kurier-Unternehmen und der Status als austauschbarer Dienstleistungsanbieter passen nicht mit überbetrieblicher Organisierung zusammen. Kein Abschluß gewerkschaftlicher Tarifverhandlungen steigert die Einnahmen der Boten, sondern der Druck, den die Subs in den Meetings machen. Die Chefs der messengers, moskitos, berolinos und sonstigen Kuriere sprechen dann manchmal neue, höhere Kundenpreise ab. Davon profitieren anschließend auch die Fahrer. Ansonsten rät Daniel Stecher, stellvertretender Berliner messenger- Chef, seinen Fahrern zu Aktien statt Beiträgen zur Rentenversicherung.
Christian Hohensee von der Gewerkschaft ÖTV kennt die Einkommensverhältnisse und die Risiken der Subunternehmer. Aber der Einfluß auf Unternehmen wie messenger ist gering. „Wir drücken den Kurieren und Transporteuren auf der Straße Informationsblätter in die Hand, aber die hohe Fluktuation und die Organisationsform als Subunternehmer macht uns zu schaffen.“ Die ÖTV hat inzwischen auf die Vielzahl von Dienstleistern reagiert. „Wir haben eine Dienstleistungs-Abteilung eingerichtet“, lautet die gewerkschaftliche Auskunft. Einer der ersten Erfolge der neuen ÖTV-Politik: Gegen einen Transportservice führte die ÖTV mit Erfolg einen Prozeß, weil der Betrieb keine Sozialabgaben für formal selbständige Beschäftigte zahlen wollte.
Auf über 13 Millionen Beschäftigte ist die Zahl der Subunternehmer und Festangestellten im privaten Dienstleistungsgewerbe bundesweit angewachsen. Gerade die Branchen der „personalen Dienstleistungen“ (Pizza-Bringdienste, Altenpflege...), in denen die schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnisse besonders häufig vorkommen, werden bis 2000 auf über fünf Millionen Menschen zunehmen. Doch in viele der neuen Dienstleistungsfirmen bekommen die Gewerkschaften keinen Fuß hinein. So sind im privaten Sicherheitsgewerbe nur zwölf Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Betriebsräte und Tarifvereinbarungen sucht man vielfach vergebens. Parallel dazu leiden die traditionellen Industriegewerkschaften an Schwindsucht: 1996 sank die Mitgliederzahl der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften um 348.000 auf neun Millionen Mitglieder.
Anders als bei vielen jungen Unternehmen ist die Lage bei Detesystem. „Natürlich haben wir einen Betriebsrat“, meint der Chef der Berliner Filiale, Peter Spohn. Der Telekom-Ableger, der Multimedia-Lösungen, Telearbeit, „Mobile Working“- und Call-Center-Dienstleistungen entwickelt, beschäftigt 83 Dienstleister. Sie wurden von der Telekom beurlaubt, kommen von Hewlett Packard, Siemens und anderen Konzernen. Bei ihren früheren Arbeitgebern waren die Leute Gewerkschaftsmitglieder – und sind es geblieben.
Die Detesystem-Mitarbeiter profitieren von einem Bündel sozialer Absicherungen, die gewerkschaftlich erstritten werden – obwohl in ihrer Wilmersdorfer Zentrale eine ähnliche Atmosphäre herrscht wie beim Kurierdienst messenger. Es dominieren das Meeting und die Teambesprechungen. Informatiker und Kaufleute zirkulieren. Wenn eine Bank oder ein Industrieunternehmen Telearbeit einführen will, legen sie los und entwickeln Systemlösungen am PC. Die Hierarchie soll ausgeblendet werden, meint Peter Spohn, „alle Abteilungen arbeiten eng verknüpft“, von der Auftragsakquise über die Systemdesigner bis zur Betriebsbetreuung.
Gewerkschaftliches Bewußtsein haben die Ex-Telekomler noch aus ihrer Postgeschichte mitgebracht – als Mitglieder der Deutschen Postgewerkschaft. Die Festangestellten können und wollen im Gegensatz zu den Fahrradkurieren ihr Leben langfristig planen, denn die messenger-Uhr des körperlichen Verschleißes tickt hier nicht so schnell. Ganz im Gegenteil legen sie sich mit jedem Auftrag zusätzliches „Humankapital“ zu und werden für das Unternehmen wertvoller.
Bessere Arbeitsbedingungen erstreiten die MitarbeiterInnen nicht selber. Diese Aufgabe ist an den Betriebsratssprecher Johannes Rahn delegiert: „Als klar wurde, daß über das interne Computernetz die Mitarbeiter kontrolliert werden können, haben wir interveniert und die Programmeinstellung ändern lassen.“ Auch wegen Überstundenverstößen und Sonntagsarbeit klopft Rahn regelmäßig bei seinem Chef Spohn an und hebt den Zeigefinger. Vielleicht melden sich ja auch die Kuriere irgendwann mal bei der Gewerkschaft. „Wir würden die Boten natürlich vertreten“, so Uwe Scharf, stellvertretender Chef der ÖTV.
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