: Eine Wanderung durch Siebenbürgen
Über einsame Hügellandschaft oder auf den Spuren der Kultur der Siebenbürger Sachsen. Ein Zeitensprung ■ Von Christian Prill
Kurz vor zwölf am Mittag in Wurmloch. Fritz Schneider drückt den heruntergebrannten Stummel seiner filterlosen Carpati aus und macht sich auf den Weg zum Hauptturm der Kirchenburg. Schneider wird gleich die Glocken läuten. Eigentlich macht er das dreimal am Tag, aber seit kurzem läßt er das Morgenläuten ausfallen. „Es ist mir zu früh für die paar Sachsen, die hier noch sind“, sagt er. Nun läutet er nur noch um zwölf Uhr mittags und abends, wenn es halb zehn ist. Beim Läuten schaut er auf seine Digitaluhr; nach zwei Minuten ist Schluß. „Das mache ich jetzt seit sieben Jahren, seit ich Frührentner bin“, erzählt Schneider. „Früher habe ich drüben in Kleinkopisch in der Giftküche gearbeitet.“ Kleinkopisch, nur rund zehn Kilometer entfernt, war bis vor kurzem eine der schlimmsten Dreckschleudern Rumäniens. Heute werden in den dortigen Fabriken nur noch sehr eingeschränkt Grundstoffe für die chemische Industrie produziert.
Valea Viilor, zu deutsch Wurmloch, das ist heute eine kleine Gemeinde mit etwas mehr als 1.500 Einwohnern. Die meisten sind Rumänen oder Roma. Von den ehemals 900 Siebenbürger Sachsen, die Mitte der 60er Jahre noch in Wurmloch lebten, sind nicht mehr viele dageblieben. Schneider kann sie schnell zusammenzählen: Mit ihm sind's noch 16 Sachsen, die dort sind. Dabei war die Kultur der Siebenbürger Sachsen einmal bestimmend in dieser Region in der geographischen Mitte Rumäniens.
Imposantester Ausdruck siebenbürgisch-sächsischer Kultur sind zweifellos die Kirchenburgen, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert in nahezu jedem Dorf zum Schutz gegen die einfallenden Türken und Tataren errichtet worden sind. Sie sind die pragmatische Zusammenführung von weltlichem und kirchlichem Leben in existentiellen Bedrohungssituationen, indem sie ein dörfliches Weiterleben innerhalb der Kirchenanlage ermöglichten. Heute wirken die Kirchenburgen kaum noch wie intakte Gemeinden, eher schon wie Museen, und ihre Gemeindemitglieder fast wie Angestellte eines Freilichtmuseums, die den Besuchern vergangene Kultur vorführen sollen.
Die haben aber keine grünen „boco“-Arbeitsanzüge an. „Hat mir mein Sohn aus Deutschland mitgebracht“, erzählt Schneider nicht ohne Stolz. Neben dem Läuten der Glocken kümmert er sich noch um den alten sächsischen Friedhof. Dafür bekommt er Geld von der Kirche aus Deutschland. Leider wird das immer weniger: Vor einigen Jahren bekam er für die Pflege der 270 Gräber noch 1.200 Mark im Jahr, heute sind es nur noch 800.
Im schattigen Torhaus der Kirchenburg, hinter kühlen Mauern, macht Schneider mit dem Dorflehrer Mittagspause. Der schwergewichtige Dorflehrer, auch ein Sachse, tischt Bodenständiges auf. Zum Brot gibt es Speck mit Schwarte, frischen Knoblauch und Zwiebeln aus dem Kirchgarten. Aus der 2-Liter-Cola-Plastikflasche kommt der selbstgekelterte Wein. Das modernisierte Stilleben eines niederländischen Meisters vergangener Jahrhunderte. Man sitzt auf historischem Gestühl und kaut bedächtig. Wenn die beiden Hochdeutsch sprechen, klingt es eigenartig veraltet. In der Sprache ist die Langsamkeit des Dorfes und die geographische Abtrennung zu spüren. Der Dorflehrer erzählt: „Vor ein paar Monaten waren Leute von der Kirche aus Deutschland hier und haben einen Wanderweg nach Eibesdorf markiert. Dabei kommt hier sonst kaum jemand vorbei.“
Vom Tourismus ist in den siebenbürgischen Dörfern trotz der einzigartigen Kulturschätze und der einsamen Hügellandschaften so gut wie gar nichts zu spüren. Wer über die verschlafenen Dörfer wandert, wähnt sich auf einer Zeitreise. Das fand schon der Brite Charles Boner, der nach fast einjährigem Siebenbürgen-Aufenthalt 1865 sein Standardwerk der Reiseliteratur über diesen Landstrich veröffentlichte. Er schrieb – immer noch ganz aktuell: „,Ist es auch sicher‘, so fragt Ihr Euch selbst, ,dass dies das neunzehnte und nicht das sechszehnte Jahrhundert ist?‘“
Auf den Feldern arbeiten die Menschen nach wie vor überwiegend mit Sensen und Ochsenkarren, in den kleinen Ortschaften sind die Straßen häufig ungeteert, und das Wasser kommt wie einst mit dem Eimer aus dem Ziehbrunnen. Die Dorfkneipe, die im gleichen Eingang liegt wie das Magazin „Mixt“, in dem es alles für den Alltag gibt, ist oft die einzige Gelegenheit zur Einkehr. Dort gibt es zwar nur Wodka und Bier, aber auch die besten Einblicke in den siebenbürgischen Dorfalltag.
Zwei Dörfer weiter liegt Meschen. In seiner Anlage erinnert es sehr an Wurmloch. Die gleichen Bauernhäuser mit den großen Toreinfahrten und eine ähnlich massive Kirchenburg bilden den Ort. Ein alles durchnässender Landregen an einem Samstag läßt die Menschen in den Häusern bleiben. Nur im Bushäuschen neben der Kirche sitzt ein alter Mann. Er trägt eine Baseballkappe, wie sie von fast allen hier in Siebenbürgen gerade getragen wird. „USA. California“ steht darauf. Der Mann hat eine Fahne und ist sehr mißmutig. Er hält sich die Backe, und es ist klar, was das bedeutet. Seine Versuche, vorbeifahrende Dacias anzuhalten, kommen immer zu spät; meist sind die Wagen eh vollbesetzt; der letzte Bus in die Stadt ist längst weg oder fuhr gar nicht erst, wer will das schon sagen. Dann kommen nacheinander Leute, offenbar von den Feldern. Sie sind alle jung, niemand über 25, Männer und Frauen – manche noch Jungs und Mädchen. Es sind bestimmt ein Dutzend, die sich erschöpft und durchnäßt an der Haltestelle sammeln. Nach einer Weile kommt ein Roman-Diesel angefahren. Eine Art Laster mit Bauwagenaufsatz, der hier häufig zum Transport von Landarbeitern eingesetzt wird. Drinnen ist es eng, der Boden liegt voller alter Kabel, die Nässe schlägt sich auf den Scheiben nieder. Alle sind froh, sich endlich umziehen zu können. Die Stimmung ist ausgelassen, die Woche endlich vorbei. Die beiden Vorarbeiter haben Rum dabei. Einer erzählt von der Arbeit draußen auf den Gasfeldern: „Wir halten die Anlagen in Ordnung. Am Wochenende geht's in die Stadt zurück, nach Schäßburg. Montag früh müssen wir wieder für die ganze Woche raus. Aber die Arbeit ist für das Geld schon ganz in Ordnung“, meint er. Zum Abschied fragt er: „Was kostet in Deutschland ein Fernseher auf dem Markt?“
Auf Reisende ist man lediglich in den größeren Städten wie Schäßburg (Sighisoara) oder Kronstadt (Brasov) eingestellt, die aber doch recht spärlich zumeist aus Rumänien selbst oder den osteuropäischen Nachbarländern kommen. Das mittelalterlich wirkende Schäßburg hat bisher keine Probleme mit Reisebussen und all den negativen Folgen, die der Tourismus hierzulande in vergleichbaren Städten nach sich gezogen hat. Die touristischen Einrichtungen entwickeln sich erst langsam. In der Altstadt gibt es gerade mal drei Geschäfte, in denen der übliche Trödel in bescheidenem Rahmen ausliegt. An einem Sonntag ist es in Schäßburg sogar schwierig, eine Postkarte zu kaufen. Dabei stammt Vlad Tepes, besser bekannt in der literarischen Figur des Dracula, von dort. Wer essen gehen möchte, kann einen der neuen „Italiener“ ausprobieren. Das neue rumänische Bürgertum bevorzugt Pizza aus dem Holzbackofen und Dosen-Cola. Restaurants mit rumänischer Küche hingegen sucht der Gast meist vergeblich.
Manche der alten Hotels verbreiten einen heruntergekommenen Charme. Zu groß wirken die alten Bürgerhäuser, in denen sie oft untergebracht sind, zu dunkel die Flure, zu muffig die Zimmer. Das Steaua-Hotel in Schäßburg ist so ein Haus. An den Wänden hängen verblaßte Tourismusplakate aus sozialistischen Zeiten, abends erinnern die notbeleuchteten Flure an das verfluchte Berghotel in Kubricks „Shining“. Ein Erlebnis gastfreundlicherer Art ist es, privat unterzukommen. So manches alte Ehepaar bessert sich damit die spärliche Pension auf. So auch Aurel Babes in Kronstadt. Für fünf Dollar pro Person vermieten er und seine Frau ein mit Wandteppichen ausgeschmücktes Hinterzimmer in ihrem Altstadtgassen-Haus. Aurel Babes spricht ein wenig Deutsch: „Ich bin mit meiner Frau fast jeden Abend am Bahnhof. Wir versuchen, unser Gästezimmer zu vermieten.“ Babes zeigt gern sein Gästebuch. Dann holt er einen Reiseführer- Ausschnitt aus der Tasche. „Schauen Sie, da stehe ich drin“, lacht er und pocht mit dem Zeigefinger auf die zerfledderte Seite.
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