piwik no script img

Tödlicher Ausgang einer Familienfehde

■ Nach jahrelangem Streit und zwei Morden war gestern Prozeßbeginn

Eine türkische Familientragödie, die wohl beispiellos in ihrem Ausmaß ist, beschäftigt seit gestern das Landgericht. Der siebenjährige Streit zwischen zwei benachbarten türkischen Familien hatte am 16. März dieses Jahres in der Wissmannstraße in Neukölln seinen Höhepunkt erreicht: Vier Menschen kamen um – zwei Männer wurden erschossen, eine Frau und ihr Sohn töteten sich selbst.

Seit gestern steht der 52jährige Schweißer Muzaffer B. wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs vor Gericht. Der Mann mit dem schulterlangen weißen Haar und Rauschebart ist das Oberhaupt der Familie B. Seine Ehefrau und sein ältester Sohn Ali hatten sich am Tag in der Wohnung der Familie erschossen, während sich Muzaffer B. mit der einen Stock tiefer wohnenden Familie D. befehdete. Nach dem Suizid seiner Angehörigen war Muzaffer B. laut Anklage mit einer Pistole zur Wohnung der Familie D. gerannt und hatte mehrfach durch die Tür geschossen. Einige Mitglieder der Familie D. verfolgten ihn daraufhin nach oben und wurden dort von den Schüssen des Angeklagten niedergestreckt. Zwei Söhne der D.s starben, ihre 52jährige Mutter wurde schwer verletzt.

Die siebenjährige Fehde der beiden Familien hatte 1990 begonnen. Muzaffer B. hatte mitbekommen, daß sich die Eheleute D. scheiden lassen wollten und versuchte vergebens zu schlichten. Der älteste Sohn der D.s verübelte ihm die Einmischung und griff ihn in einem Lokal mit einem Messer an. Muzaffer B. entwendete ihm dieses und verletzte den Angreifer tödlich. Weil er in Notwehr gehandelt hatte, wurde er freigesprochen. Seither war Krieg zwischen der seit der Scheidung mit ihren fünf Kindern allein lebenden Mutter D. und den B.s. Immer wieder mußte die Polizei in der Wissmannstraße 11 anrücken.

„Es ist eine große Traurigkeit in mir“, begann der Angeklagte gestern seine stundenlange, von einem Dolmetscher übersetzte Aussage. Der Mann mit dem grünen Parka und dem dicken Wollschal wirkte sehr wirr, als er zunächst schilderte, daß sich sämtliche Fernsehprogramme ständig über ihn „lustig machen“, und daß seine Wohnung permanent observiert worden sei. Zu dem Tathergang sagte er, die Provokationen seien wieder einmal von der Familie D. ausgegangen, indem einer ihrer Söhne mit der Axt ein Loch in seine Tür geschlagen habe. Nein, er habe niemanden umbringen wollen, beteuerte er. „Ich habe sieben Jahre lang dazu die Möglichkeit gehabt und es nicht getan.“

Warum sich seine Ehefrau und sein Sohn Ali an dem Tage selbst töteten, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Muzaffer B.s Verteidiger Matthias Zieger hält es für möglich, daß sich Ali zwischen „Baum und Borke“ gefühlt habe, weil er die Streitigkeiten selbst gar nicht gewollt habe. Und/oder weil er von seiner Mutter deshalb als Feigling beschimpft worden sei. Die Frau habe vermutlich aus Gram über den Tod des Sohnes selbst zur Waffe gegriffen.

Obwohl es eigentlich so leicht gewesen wäre, die Fehde durch einen Auszug zu beenden, hat dies keine der beiden Parteien getan. Der Prozeß wird fortgesetzt. Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen