: Mamma-mia-Syndrom
■ Die medizinische Versorgung von Migranten stößt auf sprachliche und kulturelle Barrieren. Gefragt ist eine multikulturelle Nachschulung
Der Bauchraum: unendliche Weiten. „Sagen Sie doch mal genau, wo's wehtut!“ — „Überall“, antwortet der eine, während der andere dem Mediziner das betroffene Organ und die Ursache vorzuschreiben versucht: Streß schlägt halt auf den Magen. Irgendetwas Falsches gegessen oder ein Virus. Liebeskummer oder Merkur im falschen Haus.
Wahrnehmung von Krankheit und Strategien zur Gesundung sind heute weitgehend subjektiv. Vollends verwirrend kann die Anamnese ausfallen, wenn sich mit Arzt und Patient Angehörige verschiedener Kulturen gegenübersitzen — die „Symptompräsentation“ wird nicht selten zum Rätselraten. Die Schilderung des Patienten wird geprägt von der Herkunftskultur, dem Geschlecht und der sozialen Schicht. Araber zum Beispiel verorten ihre Beschwerden häufig im Kopf, Angehörige von Latino-Kulturen messen den Nerven hohe Bedeutung bei. Türkische und italienische Frauen beschreiben ihr Leiden häufig als persönlichen Weltuntergang. Insgeheim diagnostizieren manche Ärzte in solchen Fällen ratlos bis despektierlich einen „türkischen Totalschaden“ oder ein „Mamma- mia-Syndrom“.
Weil verstehen muß, wer helfen will, fand Anfang Oktober im Berliner Virchow-Klinikum zum Thema „Migration und Gesundheit“ ein Symposium statt. Obwohl viele Arbeitsmigranten von einst längst Großeltern sind, sei der Themenkomplex „ein unbeackertes Feld der Medizin“, so der Tagungsvorsitzende, Professor Heribert Kentenich von der Berliner Frauen- und Kinderklinik des Deutschen Roten Kreuzes. Medizinische Dolmetscherdienste gebe es bisher nur vereinzelt, noch immer lägen fast alle Informationsblätter für die Operationsvorbereitung ausschließlich auf Deutsch und Englisch vor. „Außerdem bedeutet Verstehen eben sehr viel mehr, als nur die Sprache zu verstehen — was wissen wir schon von den Nöten thailändischer Patientinnen, die in Berliner Bordellen arbeiten?“
Viel weiß Kentenich inzwischen von den Problemen türkischer Frauen in gynäkologischer Behandlung — aus eigener Erfahrung in der Frauenklinik und aus einer „Analyse der Versorgungssituation gynäkologisch erkrankter türkischer Frauen im Krankenhaus“, die er im Virchow-Klinikum leitet, wo etwa jede vierte Patientin nicht- deutscher Herkunft ist. Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt des Berliner Forschungsverbundes „Public Health“ soll helfen, „Zugangsbarrieren zu adäquater gesundheitlicher Versorgung“ zu erkennen und zu beseitigen. An den Beispielen Notfallambulanz und Sterilitätstherapie verdeutlichte Kentenich auf dem Symposium die Probleme bei der Behandlung von Migrantinnen und Migranten. In der gynäkologischen Ambulanz lassen Verständigungsschwierigkeiten schon die Anamnese im Schnitt deutlich kürzer ausfallen. Dafür werden den Migrantinnen schließlich oft Medikamente verordnet, wo beruhigende Worte ausreichen würden.
Die Überwindung der Sprachbarriere ist in vielen Fällen das vorrangige Problem: Unerwünschte Kinderlosigkeit läßt sich nach den Erfahrungen Kentenichs häufig mit einer Beratung aus der Welt schaffen, denn das Wissen um den eigenen Körper ist bei überdurchschnittlich vielen Migranten gering. Eine hohe Analphabetenquote erschwert die Aufklärung, auch eine angemessene Drogenberatung ist oft nicht möglich. Die Folgen sind fatal: Viele Frauen ausländischer Herkunft vernachlässigen die Krebsvorsorge, zahlreiche Patienten begeben sich bei ernsthaften Krankheiten zu spät in Behandlung, weil sie erste Symptome falsch eingeschätzt haben. Kentenich plädiert daher wie auch der „Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit“, einem bundesweiten Zusammenschluß zahlreicher Institutionen, für leicht konsumierbares Informationsmaterial — etwa Videos.
Der unerfüllte Kinderwunsch wird bei türkischen Paaren in der Regel viel früher zum Problem als bei deutschen. „Der psychische Druck ist manchmal schon bei 18jährigen Frauen enorm“, so Kentenich, „denn erst ein Kind würde den Status festigen.“ Sieht der Mediziner die Notwendigkeit psychologischer Maßnahmen, weil keine organischen Gründe für die Kinderlosigkeit auszumachen sind, kann es erneut zu Verständigungsschwierigkeiten kommen: Gespräche über persönliche Probleme gehören in zahlreichen Kulturen ausschließlich in die Familie, Schamgrenzen erschweren die Suche nach den Ursachen, und Psychosomatik kommt in vielen Konzeptionen von Krankheit nicht vor. Der Erfolg der Therapie hängt maßgeblich davon ab, ob der Arzt gelernt hat, sich als Brückenbauer zwischen verschiedenen Sichtweisen zu betätigen. Neben Dolmetscherdiensten ist also multikulturelle Nachschulung gefragt.
„Was wollen Sie denn noch alles für diese ausländischen Patienten?“ — diese Frage spukt nach Erfahrung des Freiburger Medizinsoziologen Emil Zimmermann so manchem Arzt und Politiker unausgesprochen durch den Kopf, obwohl in der Praxis häufig nicht einmal grundlegende rechtliche Notwendigkeiten eingehalten werden können — etwa die Aufklärung über Risiken einer Operation. Niemand kann überprüfen, was bei Übersetzungen durch medizinische Laien herauskommt. Viel zu häufig gilt: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie halt irgendwen, der Ihre Sprache spricht.“ Das ist nicht selten der minderjährige Nachwuchs oder eine Putzfrau des Krankenhauses. Gute Besserung! Holger Wicht
Beim „Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit“, c/o Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, Postfach 140280, 53107 Bonn, Frau Anke Settelmeyer, Tel.: (0228) 5272973, kann ein kostenloser Info-Dienst mit lokalen Angeboten (z.B. Dolmetscherdienste), Veranstaltungs- und Literaturhinweisen bezogen werden. Beratung, Information und Dolmetscher vermittelt auch das Ethnomedizinische Zentrum in 30449 Hannover, Eggestorffstr.2, Tel.: (0511) 447653/54.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen