piwik no script img

Babyboom in Moskauer Kliniken

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zögerten die Russinnen, Kinder zu bekommen. Seit der Wiederwahl Jelzins steigt die Zahl der Schwangerschaften. Viele hoffen auf ein Mindestmaß an Stabilität  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Lena hält den pummeligen Kolja fest umschlossen. Die 41jährige Buchhalterin gehört zu den Spätentwicklerinnen, die in Moskau zur Zeit für einen Babyboom sorgen. Lena heiratete erstmals im letzten Jahr, zog mit ihrem Mann indes nicht zusammen. Sie wohnt auch weiterhin bei ihrer Mutter.

In der Geburtsklinik „Roddom“ No.7 im Südwesten der Hauptstadt ist das Foyer gerammelt voll. Auffallend viele Frauen in nicht mehr ganz jungem Alter warten jeden Moment auf ihre Niederkunft. Gewöhnlich hat die Russin bis zum 25. Lebensjahr ihre reproduktive Funktion weitgehend erledigt: „60 Prozent ihrer Kinderpläne sind erfüllt“, während 80 Prozent der jungen Frauen bis 25 mindestens schon einmal verheiratet gewesen waren. Das ermittelten Wissenschaftler des Moskauer Instituts für Demographie und Ökologie des Menschen (IDÖM) in einer kürzlich erschienenen Studie.

Die momentane Gebärfreudigkeit hängt indes mit den älteren Jahrgängen zusammen, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 zunächst zögerten, das Wagnis der Kindererziehung einzugehen. „Die meisten Frauen, die zu uns kommen, nennen die gleichen Motive“, meint Oberschwester Olga. „Vor Jahren haben sie sich noch gegen ein Kind gesperrt, heute treffen sie die Entscheidung ganz bewußt.“ Grund hierfür sei die verbesserte materielle Lage der Frauen oder der Familie. Im ersten Halbjahr 1997 wurden 50.000 Babies geboren im Vergleich zu 72.000 im ganzen Vorjahr. Setzt sich der Trend fort, haben die Moskauerinnen Ende des Jahres 35 Prozent mehr Kinder in die Welt gesetzt als 1996.

Unmittelbar nach Boris Jelzins Wiederwahl in das Präsidentenamt im Sommer 1996 stieg die Zahl der Schwangerschaften drastisch an. Offenkundig signalisierte der Sieg Jelzins über den kommunistischen Rivalen Gennadi Sjuganow weniger Unwägbarkeiten und ein Mindestmaß an Stabilität. Zumindest reichte es jenen Frauen, die sich mit einem Kinderwunsch trugen. Die 29jährige Alla bestätigt das: „Mich hielt nichts mehr davon ab, in den letzten Jahren ging es in Moskau stetig bergauf.“ Wie zur Rückversicherung schaut sich die zierliche Frau noch einmal um: „Haben Sie diese Klinik mal vor fünf Jahren gesehen, wie heruntergekommen die war?“

In der Tat vermittelt die Eingangshalle heute ein bißchen mehr Lebensfreude. Gleichwohl bleiben die Krankenzimmer nach sowjetischer Sitte für Besucher verbotenes Terrain. Nicht einmal die Väter dürfen die zehn Tage nach der Geburt, die Frauen gewöhnlich in der Klinik verbringen, zu ihrem Nachwuchs. Hygienische Gründe nennt die Hausordnung dafür. Indes ist es wohl eher das Personal, das Unruhe und Mehrarbeit scheut. Wer dennoch sein Kind gleich nach der Geburt der Verwandtschaft vorführen möchte – vorausgesetzt, er kann es sich leisten –, läßt sich ein Videotelefon neben dem Bett installieren.

Inwieweit sich die Entwicklung im wirtschaftlich prosperierenden Moskau auch in der Provinz feststellen läßt, kann erst im nächsten Jahr geklärt werden, wenn alle statistischen Angaben vorliegen. Einem gesamtrussischen Trend dürfte es allerdings nicht gleichkommen. Die hauptstädtische Bevölkerung unterscheidet sich in Zuversicht und Fortschrittsglauben – wie Wahlergebnisse immer wieder belegen – deutlich vom Verhalten der Bewohner in den meisten russischen Regionen.

Seit Jahren beklagen vor allem oppositionelle Politiker vom nationalistischen und kommunistischen Spektrum, die Russen seien ein aussterbendes Volk. Die Gründe schreiben sie den stümperhaften Reformen oder dem Systemwechsel zu. Der neue Moskauer Trend wird auf die rückläufige Gesamtbevölkerung auch nur marginal einwirken. Die Sterblichkeitsrate stieg in den letzten Jahren sichtbar an. Männer haben im Schnitt eine Lebenserwartung von 59 Jahren, auf 1.000 Einwohner entfallen 15 Todesfälle. Damit führt Rußland die traurige Statisik in Europa konkurrenzlos an.

Unterdessen verdient ein Moment etwas mehr Aufmerksamkeit. Seit Beginn der 60er Jahre sinkt in Rußland die Geburtenrate. Ende der 70er war das Westniveau erreicht. Heute rangiert Rußland zwischen den etwas gebärfreudigeren Ländern Nordeuropas, Japan und Nordamerika auf der einen und Italien, Deutschland und Spanien auf der anderen Seite. In den 80er Jahren setzte unterdessen ein Babyboom ein, der in den Berechnungen Anfang der 90er als Vergleich dient. Die Demographen sprechen offen von einer „Überproduktion“ von Ehen und Geburten in den 80er Jahren, die unerfreuliche soziale Folgen mit sich brachte: Die Zahl minderjähriger Mütter und Ehefrauen zwischen 15 und 19 Jahren bewegt sich auf dem Level Lateinamerikas.

Warnungen vor einer Geburtenkrise und einer demographischen Katastrophe halten die Wissenschaftler des IDÖM für verfehlt: „Alle Prognosen für Rußland, die von alarmierenden Prämissen ausgehen, haben sich als unhaltbar erwiesen.“ Lediglich das übereilte Heiratsverhalten und die frühen Schwangerschaften rechtfertigten tatsächlich, von einer Krise zu sprechen – einer Krise der traditionellen Formen des Zusammenlebens, die sich seit hundert Jahren in Rußland nicht verändert haben. Eine Umkehr im Denken findet nur in den besser situierten und intellektuelleren Kreisen statt. Diese „Avantgarde“, so die Autoren, orientiere sich an westlichen Lebensvorstellungen. Bis ins Jahr 2015, vermuten die Wissenschaftler, werde sich gesamtgesellschaftlich am Reproduktionsverhalten der jungen Russen leider nicht viel ändern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen