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Und er bewegt sich doch nicht

Weiter so. Mit diesem Slogan bestritt die Union ihre Wahlkämpfe. Doch inzwischen geht es nicht mehr so weiter. Die Globalisierung fordert eine Antwort, und die erwarten die Parteitagsdelegierten von Helmut Kohl. Schließlich will der noch einmal Kanzler werden  ■ Aus Leipzig Dieter Rulff

Wer der Wunschkandidat der CDU für das Kanzleramt ist, das war schon vor der gestrigen Eröffnung des neunten Bundesparteitages klar: Helmut Kohl. Doch wen wünscht dieser sich als ideales Parteimitglied? Einen wie den ehemaligen Bundesinnenminister Rudi Seiters, einen „der anpackt“, keinen „von denen, die, wenn sie den Raum betreten, schlechte Stimmung verbreiten“. Denn von denen hat Kohl in den letzten Tagen genug gehabt. Von den Eschers und Müllers, die, ständig die Zukunft im Munde führend, Personaldebatten lostreten und ihm die letzte Entscheidung, die er ganz alleine treffen will, abnehmen wollen: die über seinen Rücktritt.

Gegen solche Despektierlichkeiten hebt sich der „liebe Rudi Seiters“, der noch nie ein lautes Wort gegen seinen Intimus gerichtet hat, wohltuend ab. Auf ihn hält Kohl zu Beginn des Parteitages anläßlich seines sechzigsten Geburtstag eine kurze Laudatio. Doch an ihn und seinesgleichen ist auch die Eröffnungsrede gerichtet, mit der Helmut Kohl wenige Minuten später die Delegierten von seiner Kandidatur überzeugen will.

Schon vor Beginn des Parteitages hatte der Generalsekretär Peter Hintze die Kritiken des Junge- Union-Vorsitzenden Escher und des saarländischen Landesvorsitzenden Müller zu den Akten gelegt. Der „Familienkrach“ um Personal- und Strategiefragen sei bereinigt. Doch die Stimmung in der Familie ist noch schwer gedämpft, deshalb wird vom Vorsitzenden erwartet, daß er eine gute Rede hält.

Die Ovationen sind ihm sicher, schon bevor er den ersten Satz gesagt hat. Alles andere als stürmischer Applaus würde das Bild der Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig trüben. Woran soll man also eine gute Rede erkennen? Einer, der es wissen muß, ist Peter Radunski. Der heutige Kultursenator von Berlin hat immerhin von 1976 bis 1990 sämtliche Bundestags- Wahlkämpfe der CDU geleitet. Er, dem man in Sachen Mobilisierung nichts mehr vormachen kann, legt die Meßlatte hoch. Es müsse Kohl gelingen, eine Stimmung wie auf dem Hamburger Parteitag zu erreichen. Damals 1994, Monate vor der letzten Bundestagswahl, als sich die CDU in einem vergleichbaren Stimmungs- und Demoskopietief befand wie heute, hatte der Vorsitzende mit seiner Rede eine Aufbruchstimmung induziert, die in der Art des sich selbst verstärkenden Erfolges den Wahlsieg herbeiführten.

Auch jetzt steht wieder „einer der härtesten Wahlkämpfe in unserer Republik an“, auch in den kommenden Monaten liegt vor der CDU wieder „eine harte Wegstrecke“. Es geht wieder „um Aufbruch oder Abstieg“.

Doch es geht kein Ruck durch die tausendundein Delegierten des Parteitages. Man möchte ja lauthals zustimmen, möchte mitgerissen werden. Allein der Vorsitzende gibt seiner Partei keine Gelegenheit dazu. Fast scheint es so, als vermeide er geradezu alles, was Emphase hervorrufen könnte. Selbst die Auseinandersetzung mit seinen potentiellen Konkurrenten von der SPD erfolgt mit keiner größeren Leidenschaft als die Ausführungen zur Rentenreform. Kein Wort an die versteckten und offenen Kritiker, nur wenige Sätze über die anscheinend so drängenden Probleme der Zukunft, die Auswirkungen der Globalisierung. Statt dessen eine Würdigung des Opus Magnum des Staatsmannes Helmut Kohl. Ein Abriß der historischen Leistungen, angefangen mit der Durchführung des Nato-Doppelbeschlusses, über die Wiedervereinigung und die Überwindung des Ost-West-Konfliktes bis zur Vollendung der inneren Einheit, die Kohl als eine der noch anstehenden Etappen seines Lebenswerkes sieht. Die zweite, damit zusammenhängende, ist die europäische Einigung, ohne die „auch die deutsche Einheit nie möglich gewesen wäre“. Kohl will dafür sorgen, daß der Euro kommt, pünktlich und als stabile Währung, und jeder könne sich darauf verlassen, „daß diese Prinzipien eingehalten werden“. Kohl wendet sich gegen diejenigen, die den Euro aus opportunistischen Gründen in Frage stellen. Gegen Stoiber, der noch am Wochenende davor gewarnt hat, in Sachen Euro die ökonomische Entscheidung der politischen unterzuordnen. Der bayerische Ministerpräsident drohte mit der Konsequenz, „daß die bayerische Staatsregierung eine andere Entscheidung träfe als die Bundesregierung“. Wer den Euro in Frage stelle, kontert Kohl auf dem Parteitag, werde von den Wählern bestraft. Zugleich macht der Kanzler aber auch deutlich, daß „in unserem Europa“ niemand seine nationale Identität verlieren wird, die Nation „bleibt das Fundament unseres staatlichen Zusammenlebens“.

Diesem Fundamentstein gesellen sich bei Helmut Kohl mit der Familie und dem „C“ zwei weitere hinzu, aus denen sich das christdemokratische Gedankengebäude bildet. Es ist das Gebäude, in dem Helmut Kohl, Rudi Seiters und (noch) die Mehrzahl der Delegierten heimisch sind. Wo viel von Geborgenheit die Rede ist, von „partnerschaftlichen Miteinander der Generationen. „Das Fundament für ein solches Miteinander bleibt auch im 21. Jahrhunder die Familie“. Sie sei, da ist sich der Kanzler sicher, „kein Auslaufmodell“, alles andere kanzelt er ebenso als „Modequatsch“ ab, wie er das „C“ als „unsere größte Stärke“ klassifiziert, die „heute wichtiger denn je“ sei. Bildung und Leistungswille komplettieren den Wertekanon. Ein Wertekanon, der eigentlich schon 1982 intoniert wurde, zum Auftakt der geistig- moralischen Wende, die durchs Land gehen sollte.

Mit diesen Worten vermag Helmut Kohl sogar seinen langjährigen Wahlkampfleiter zu verblüffen. Es sei „ganz anders als erwartet gewesen“, bekundet Radunksi, nach der Rede um sein fachliches Urteil gebeten. Es habe sich nicht um eine Wahlkampfrede gehandelt, eher „ein Panorama“ dessen, auf dem er steht. „Anspruchsvoll“, und „leise“ lauten die wohltemperierten Attribute, mit denen Kohls früherer Kampagnen-Mann die Worte seines Vorsitzenden belegt. Andere wie das Vorstandsmitglied Michel Friedmann sind da unverblümter: „Mehr Energie und mehr Innovation hätte er sich gewünscht.“ Und auch Heiner Geißler hält das soeben gehörte nicht gerade für einen Wahlkampfauftakt. Doch wer eine kämpferische Rede gewollt habe, sei ein schlechter Berater gewesen.

Die Erwartungen wurden also enttäuscht, doch liegt das nicht an Helmut Kohl, sondern an den Erwartungen. Radunski, der die Hamburger Meßlatte augenscheinlich nicht erreicht sieht, erkennt in den Ausführungen des Vorsitzenden strategisches Geschick. Der denke nämlich langfristig, es sei „ein dosierter Aufbruch“ gewesen, eher „in die Partei gesprochen“. Immerhin sei es noch fast ein Jahr hin bis zur Wahl, da müsse der Kanzler noch „steigerungsfähig“ sein.

Das Problem, sich nun ein Jahr im Wahlkampf zu befinden, ohne daß die Regierungspolitik noch Anlässe zu inhaltlichen Auseinandersetzungen bietet, eint die Union mit der SPD. Es wird folglich auf Stimmungen ankommen, der Kanzler wird die Auseinandersetzungen mit Schröder oder Lafontaine führen und zugleich den Eindruck vermeiden müssen, sich auf einem gleichem Niveau zu bewegen. Ein Staatsmann, dem vor allem Europa ein Anliegen ist, auf dieses Image sieht Radunski Kohls Rede abgestellt. Sie sei allerdings, konzediert er, auf die älteren Teile der Partei abgestellt.

Und was sagen die Jüngeren? Jungunionist Escher, der eine halbe Stunde nach Kohl ans Mikrofon tritt, beklagt unbeeindruckt die Lähmung im Lande, und diktiert auch dem Kanzler ins Stammbuch: „Reform bedeutet das Definieren von Leitbildern, nicht Reagieren auf Notwendigkeiten“. Die CDU müsse mit ihren Zielen Meinungen bilden. Was nicht als Ziel ausgegeben werde, werde auch nicht mehrheitsfähig. Dem Kanzler reicht einstweilen der mehrheitliche Zuspruch zu seiner Kandidatur – dokumentiert durch den Schlußapplaus. „Ob denn noch einer wage, jetzt über Kohl eine Personaldebatte zu führen?“ Radunski winkt ab. Dazu sei jetzt nicht die Zeit.

Und dieses Zeichen der Zeit hat der Kandidat vor allen Anderen begriffen. „Ein ganz klares Ja“, hatte er im Frühjahr zu seiner geplanten Kandidatur verkündet. Als daraufhin Kurt Biedenkopf im Bundesvorstand eine breitere Grundlage für diese Kandidatur einklagte, antwortete Peter Hintze, Kohl werde in Leipzig um ein Vertrauensvotum bitten. Der Angesprochene bekräftigte wenig später, daß er sich den Delegierten des CDU-Bundesparteitages stellen werde. Dabei brauche er „von niemandem Nachhilfe, auch nicht von einem Professor“.

Kurz vor dem Parteitag lautete die Lesart seines Versprechens dann aber: „Ich werde den Parteitag um sein Vertrauen bitten. Dann kann jeder ans Mikrofon treten und sich dagegen aussprechen.“ Was sich natürlich keiner traute. Mitbestimmung anbieten, Vertrauen einfordern und bekommen, ohne sich einem Votum zu stellen, auch das ist Kohlsche Regierungskunst. Wie immer gibt ihm der Erfolg recht. Und der hat die Partei noch immer überzeugt.

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