: Erbarmen, die Hessen kommen
Der Streit um das Wahlprogramm der Grünen schwelt. Gerharnischter Brief aus Hessen: „Dürfen nicht als verbalradikale Jusos starten“. Landesverbände sind empört ■ Aus Bonn Markus Franz
Der innerparteiliche Streit um den ersten Entwurf des Wahlprogramms der Bündnisgrünen nimmt zu. Nachdem Fraktionssprecher Joschka Fischer sowie die Finanzexperten der Fraktion das Programm kritisiert hatten, bezeichnete der hessische Landesverband in einem geharnischten Brief den Entwurf als „Programm voll ungedeckter Schecks“. Andere Landesverbände kritisierten zwar das Papier aus Hessen, griffen das Wahlprogramm aber aus anderen Gründen an.
Mit „tiefer Sorge und einem gerüttelten Maß an Verwunderung“ verfolgen die Hessen, darunter Landesvorstandssprecher Tom Koenigs und Minister Rupert von Plottnitz „die öffentliche Wahrnehmung des Programmentwurfs“. Die Kritik der Öffentlichkeit an den Vorstellungen zur Außenpolitik sei berechtigt. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, am Tag nach einer rot-grünen Regierungsbildung könnte die Bundesgeschäftsstelle der Grünen den Austritt aus der Nato verkünden. Die Schere zwischen Programmatik und realer Politik müsse „so klein wie irgend möglich“ sein. „Wir haben in Hessen gelernt, daß starke Grüne nicht als verbalradikale Jusos starten dürfen, um als Bettvorleger zu landen.“ Dem Bundesvorstandssprecher Jürgen Trittin werfen die Hessen eine „eingeschränkte Wahrnehmung“ vor.
Jürgen Trittin antwortete empfindlich. In einem Brief an die „Lieben Grünen-Promis“ bezeichnete er es als „ebenso demagogische wie falsche Unterstellungen“, die Grünen wollten am Tag nach der Koalitionsbildung den Austritt aus der Nato verkünden. Dies gehe aus den Wahlprogrammen von 1990, 1994 sowie dem jetzigen Entwurf nicht hervor.
Recht bekommt er von mehreren Landessprechern der Grünen, die sich gestern von dem Brief der Hessen distanzierten. Die nordrhein-westfälische Landesvorstandssprecherin Barbara Steffens sowie ihr baden-württembergischer Kollege Reinhard Bütikofer kritisierten, die Hessen griffen Beschlüsse an, die mehrheitlich von Partei und Fraktion gefaßt worden seien. Es entstehe der Eindruck, die Hessen wollten die Partei „endgültig in die Mitte führen“. Der niedersächsische Sprecher Hans-Albert Lennartz meinte, die Hessen übten sich in „vorauseilendem Gehorsam Richtung gemeinsamer Koalitionsverhandlungen“. Die Sprecher kritisierten aber auch das Wahlprogramm. Der nordrhein-westfälische Sprecher für Arbeit und Soziales, Daniel Kreutz, sprach von einem „völlig absurden, qualitativen Absturz“. Das Wahlprogramm mache den Eindruck, so unverbindlich wie möglich zu sein, damit man nicht verhaftet werden könne. Der Sozialteil strotze vor lyrischen Ergüssen, statt konkret zu werden. Es sei unverständlich, warum etwa die Forderung nach einer Positiv-Liste für Medikamente aufgegeben worden sei. Barbara Steffens beklagte, daß Programm sei zu sehr auf eine Koalition mit der SPD ausgerichtet. „Alle ursprünglichen Forderungen der Grünen, die Geld kosten, sind nicht drin.“ So etwa die Wiedereinführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Verbesserung des Kündigungsschutzes.
Reinhard Bütikofer hält das Programm für teilweise unseriös. Die Erhöhung des Bundeszuschusses für die Rentenreform funktioniere nur, wenn die Ökosteuer zu 100 Prozent realisiert werde. Das sei aber angesichts der Haltung der SPD nicht realistisch. Schon die Finanzexperten der Fraktion hatten falsche Annahmen moniert. Die Forderung nach einer Millionärsabgabe sei verfassungsrechtlich bedenklich, wenn zugleich die Vermögenssteuer wiedereingeführt und der Solizuschlag erhöht werden sollen.
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