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Puh! Schreiben jetzt noch komplizierter!

■ Gericht sorgt für Chaos bei der Rechtschreibung: In Niedersachsen müssen die Kinder jetzt erst mal alte und neue Rechtschreibung gleichzeitig lernen. Justiz sieht Voraussetzungen für Inkrafttreten der Reform noch nicht erfüllt

Hannover (taz) – „Misslich, ein Gräuel, dieses belämmerte Hin und Her“ – so dürften viele Eltern, deren Kinder wohl nun wieder „mißlich“, „Greuel“ und „belemmert“ schreiben müssen, auf die gestrige Gerichtsentscheidung gegen die Rechtschreibreform reagieren. Seit Sommer letzten Jahres sollen Schulanfänger und können alle anderen Schüler nicht nur in Niedersachsen nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden. In diesem Schuljahr ist die Umstellung von „daß“ auf „dass“ und „Fluß“ auf „Fluss“ in allen Bundesländern angelaufen. Ausgerechnet der Chef der Kultusministerkonferenz, der Niedersachse Rolf Wernstedt, muß nun aufgrund einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg seinen Schülern neben den neuen auch die alten Regeln einpauken – aber auch dies nur vorübergehend.

Das Gericht hat gestern in einem Eilverfahren den Erlaß für rechtswidrig erklärt, mit dem Wernstedt an seinen Schulen die vorgezogene Umstellung auf die neuen Regeln erlaubt und auch empfohlen hatte. Überholte Regeln und Schreibungen sollten nicht weiter geübt werden, lautete die einleuchtende Begründung des Kultusministers für das Vorziehen. Das sah das Gericht gestern anders: „Die Voraussetzungen für ein endgültiges Inkrafttreten der Rechtschreibreform“, die der dem Erlaß zugrunde liegende Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 1. Dezember 1995 gefordert habe, seien noch nicht erfüllt. Deswegen sei der Umstellungserlaß rechtswidrig, urteilte der 13. Senat des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts.

Wohl oder übel muß Kultusminister Wernstedt jetzt „eine Regelung finden, die den Bedenken des Gerichts Rechnung trägt“. Gegenüber der taz kündigte der Minister an, daß Schulklassen, in denen derzeit ausschließlich nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet wird, künftig auch die alten Regeln lernen müssen. Ein neuer Erlaß „mit einer Mischregel“ aus alter und neuer Rechtschreibung sei in Vorbereitung. Manchen niedersächsischen Kindern droht damit in ihrer Schulkarriere gleich ein dreifacher Schreibweisenwechsel: von alt zu neu im vergangenen Jahr, jetzt wieder von neu zu alt und neu gemischt und möglicherweise am 1. August 1998 erneut zur reformierten Schreibweise. Schon im Vorfeld der Entscheidung hatte Niedersachsens Ministerpräsident Schröder angekündigt, daß bei einer entsprechenden Gerichtsentscheidung die Reform im ganzen Land gestoppt werde.

In der Begründung ihrer Eilentscheidung vermißten die Lüneburger Richter vor allem eine Zustimmung des Bundes zur Rechtschreibreform. Daß das Bundeskabinett die Reform längst zustimmend zur Kenntnis genommen hat, hielten die Richter nicht für ausreichend und verwiesen darauf, daß ein Rechtschreibbeschluß des Bundestags-Rechtsausschusses noch aussteht. Der OVG-Senat mahnte außerdem eine langfristige Übergangsregelung an, in der an den Schulen beide Schreibweisen gleichberechtigt gelten. Wernstedt nannte diese Begründung gestern schlicht „nicht nachvollziehbar“.

Nicht abschließend entschieden hat der Senat die Frage, ob Sprache und deren Schreibweise überhaupt Gegenstand hoheitlicher Regelungen sein kann und ob die vorliegende Reform eine gesetzliche Grundlage braucht. Dabei machen die Richter allerdings auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Reform geltend. „Überwiegendes spricht dafür, daß Rechtschreibung als Teil der Sprache der Regelungsgewalt des Staates nicht zugänglich ist“, lehnt der Senat in der Begründung seiner Entscheidung praktisch jedwede staatliche Schreibregelung ab.

Immerhin haben die Lüneburger Anhänger der freien Schreibregelwahl durch die Gesellschaft mit dem Termin ihrer Entscheidung Kultusminister Rolf Wernstedt noch einen Gefallen getan: In Niedersachsen haben gestern die Herbstferien begonnen, und der Chef der Kultusministerkonferenz hat jetzt 14 Tage Zeit, um den neuen Rechtschreiberlaß zu formulieren. Wernstedt will dabei nicht nur das Urteil, sondern auch „die Interessen der Mehrheit der Schüler berücksichtigen, die bereits nach der Neuregelung unterrichtet werden“. Jürgen Voges

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