: Unterricht mit Kopien
■ Schulbücher sind an Bremer Schulen Mangelware / Kopien trotz Lehrmittelfreiheit
Der erste Elternabend nach der Einschulung ihres Sprößlings fiel für manche Eltern in finanzieller Hinsicht recht ernüchternd aus: „Es wurde gleich darüber abgestimmt, ob Lesefibeln von den Eltern gekauft werden sollen oder nicht, ansonsten würde anhand von Zetteln gelernt werden müssen,“erzählt Anke Pendzich, Elternsprecherin und Mutter zweier Kinder an der Grundschule „Am Wasser“in Bremen-Grohn.
Dabei steht es doch seit 1947 in der Landesverfassung, Artikel 31, geschrieben: „Lehr- und Lernmittel werden unentgeltlich bereitgestellt“. Der Zentralelternbeirat fordert seit langem eine gesetzliche Zusicherung, daß die in der Verfassung zugesicherten Materialien auch finanziert werden, z.B. Bücher. Freiwillige Beiträge, sagt die zuständige Referentin für die Lehrmittelvergabe, Marianne Isermann, soll es nur geben, wenn im Unterricht hergestellte Produkte in den Besitz von Schülern übergehen.
Das zur Durchsetzung der Lehrmittelfreiheit eingeleitete Volksbegehren scheiterte. Die öffentlichkeitswirksamen Initiativen des ZEB bewirkten aber immerhin, daß der Senats zusätzlich je drei Millionen Mark für die kommenden beiden Jahre bereitstellte. Wohin die Gelder genau fließen, ist noch unklar, sie sollen „je zur Hälfte in Lehr- und Lernmittel und in eine verbesserte Computer- und Medienausstattung investiert werden.“Der ZEB möchte eine genaue Darstellung des Gelderflusses, und vor allem, daß dieser an der Bücherausstattung nicht vorbeifließt. Teilweise wird in Bremen noch mit Atlanten und Geschichtsbüchern von 1968 gepaukt, der Krieg in Jugoslawien und die Wiedervereinigung haben für manchen Pennäler also noch nicht stattgefunden. „Die Bücher an unserer Schule sind steinzeitlich, viele sind vor 25 Jahren erschienen“, beschreibt Hans Heinrich Hedemann, Lehrer am Schulzentrum Obervieland, die Verhältnisse. „Ständig muß der Kopier-Etat aufgestockt werden, damit man so Defizite ausgleicht.“Seiner Meinung nach würde in Bremen Bildungspolitik über den Finanzsenator gemacht, und „steinzeitliche Bücher“gäbe es wahrscheinlich an allen Schulen im Lande. Stichproben bestätigen seine Vermutung: „Manchmal sind die Bücher so alt, daß man sie, selbst wenn man wollte, als Elternteil gar nicht mehr nachbestellen kann,“erzählt Jutta Hilbert vom ZEB, Mutter eines Realschülers an der Lehmhorster Straße in Rönnebeck-Blumenthal. Zudem besitzt in der Klasse ihres Sohnes nur die Hälfte der Schüler ein Französischbuch. „Die Geschichte und die Mathematik verändern sich nicht“, lautet die Reaktion der Behördenvertreterin Isernmann, auf derlei Auflagedaten angesprochen. Es gäbe außerdem genügend anderes Material, wie z.B. die Broschüren von der Landeszentrale für politische Bildung, und Beschwerden kämen ihrer Meinung nach sowieso meist nur von Eltern und Schülern, kaum von den Lehrern. Zudem werde nicht immer mit den alten Materialien gearbeitet.
Ilse Büscher, Elternsprecherin am Schulzentrum Obervieland, wollte ihrer Tochter zum Geburtstag einen neuen Atlas schenken: „Das nützt aber nichts, denn es wird dann doch mit den alten Ausgaben gearbeitet, wo keine Grenze mehr stimmt.“„Es liegt in der Verantwortung der Schulen, wenn diese ihre Prioritäten z.B. nicht bei neuen Atlanten gesetzt haben,“kommentiert Erika Huxholt, Sprecherin der Senatorin für Bildung, solche Engpässe. Daß die Schulen in ihrer Entscheidungsfreiheit recht eingeschränkt sind, zeigt ein Zahlenvergleich: In den „goldenen Zeiten“vor 1980 stellte der Senat rund 16 Millionen Mark pro Jahr für Lern- und Lehrmittel zur Verfügung, 1997 die Hälfte. Wenn man die Inflationsrate in diesen 17 Jahren mit einbezieht, steht an realer Kaufkraft weniger als ein Drittel zur Verfügung. Ein Grundschüler darf die Schule 60 Mark kosten, alles, von den Kopien über die Bücher bis hin zu sonstigen Gerätschaften, die er benötigt, inbegriffen. 26 Mark muß für jeden Schüler, egal welcher Schulstufe, für den Bücherbedarf reichen. „Wir haben für unsere Schule einen Etat von 30.000 Mark für Lehr- und Lernmittel. Damit müssen wir auch Reparaturkosten für Turngeräte abdecken. Da bleibt pro Jahr für jeden der 500 Schüler nicht mehr als 10 Mark pro Buch übrig“, erklärt Bernd Nehrhoff, Elternsprecher an der Grundschule in Kattenturm. Bei den heutigen Schulbuchpreisen, die selten unter 25 Mark liegen, ist dann Kreativität, mit anderen Worten „Zettelwirtschaft“angesagt, oder die Eltern müssen in die Taschen greifen: Margitta Schmidke bezahlt pro Schuljahr für ihre fünf Kinder, die die Grundschule Rönnebeck und die Sonderschule Am Wasser besuchen, „vom Bleistift bis zum Workbook“etwa 300 Mark. An der Brennpunktschule Am Wasser sind viele Eltern Sozialhilfeempfänger.
Die stehen dann sehr unter Zugzwang, wenn auf Elternabenden über die Anschaffungen abgestimmt wird.“Die in der Verfassung verkündete Garantie der Schulbildung unabhängig vom Budget der Eltern, scheint zu wanken. In Lehrerkreisen ist dabei die Lehrmittelfreiheit keineswegs unumstritten. Viele verweisen darauf, daß SchülerInnen mit den Büchern schlampig umgehen, weil sie „nichts kosten“. „Die Schüler sind in den letzten Jahren viel aggressiver geworden und behandeln die Bücher sorgloser“, berichtet Gisela Nordbrink, eine soeben pensionierte Lehrerin der Mittelstufe Obervieland. „Warum soll man einem Zahnarztsohn unnötig 60 Mark teure Bücher in den Rachen schieben. Die Mittel könnten für dringendere Dinge ausgegeben werden“, meint auch Michael Dettmann, Lehrer am Schulzentrum Alwin-Lonke-Straße. Die Lehrmittelfreiheit in Bremen sei sowieso nur noch „ein reines Lippenbekenntnis“. Auch Eberhard Plümpe, Lehrer für Gemeinschaftskunde und Politik an der Hauptschule und gymnasialen Oberstufe an der Hamburger Straße, findet den Zustand der Bücher schlichtweg „zum Kotzen“. Susha Hupka-Bartels vom ZEB hat dagegen Sorge, daß Junge oder Mädchen durch Lernmittelgutscheine diskriminiert würden; damit der Bücherverschleiß ein wenig abnimmt, hat sie eine andere Idee: SchülerInnen sollen bei der Ausleihe ein Pfand hinterlegen.
Doch auch Lehrer wollen „den schwarzen Peter nicht den Schülern zuschieben. „An unserer Schule werden teilweise Bücher innerhalb einer Woche zwischen den Klassen ausgetauscht,“berichtet Bernd Nehrhoff. Es sei klar, daß so der Zerstörungsfaktor zunehme. Außerdem dürfen die Bücher erst nach sechs bis sieben Jahren ausgetauscht werden. Im Vergleich mit den hunderten von Millionen, die die Staatskasse für die Wirtschaftsförderung übrig hat, sind für Nehrhoff die drei Millionen „ein Gnadenbrot“. „Ich befürchte auch, daß diese Mittel an den Grundschulen vorbeigehen.“Falls sich die Rechtschreibreform durchsetzen sollte, sei die finanzielle Situation „völlig im Eimer“. Insgesamt scheint es an Bremer Schulen so auszusehen, daß man mit viel Improvisation versucht zu retten, was zu retten ist: Die Kinder bekommen zur Einschulung keine Bücher sondern Schnellhefter in den Ranzen. Daß hier in Bremen anhand von Kopien gelernt wird, betrachtet manche ausländische Familie nach mehreren Jahren unveränderter Zustände mittlerweile wohl auch als normal.
Im niedersächsischen Umland, wo die Lehrmittelfreiheit seit 1994 eingeführt ist, scheint das System aufgrund der besseren Haushaltslage noch zu funktionieren. Allerdings wurde hier gleich zu Beginn festgelegt, daß nur Bücher und keine weiteren Arbeitsmaterialien gestellt werden. Außerdem können Grundschüler ihre vollgeschriebenen Mathebücher behalten, und alle vier Jahre dürfen neue Klassensätze bestellt werden.
Angela Siol
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