piwik no script img

Missouri liegt in Winterhude

Die Hamburgerin Nina Stahl unterstützt einen US-amerikanischen Verurteilten, der morgen hingerichtet werden soll  ■ Von Andrea Böhm

Missouri flimmert im Wohnzimmer. Weites Land mit Leuchtreklamen für Motels an den Autobahnausfahrten, kleinen Städten, riesigen Parkplätzen vor den Shopping Malls und einer Gleichförmigkeit, in der man sich unendlich verloren fühlen kann. Aber die Orte und Gesichter sind ihr längst vertraut, obwohl Nina Stahl nie dort gewesen ist. Bannisters Haus, in dem er aufwuchs; seine Schulzeugnisse mit durchschnittlich guten Noten; die lokalen Schlagzeilen über sein stattliches Vorstrafenregister; seine Schwester, die Polizistin geworden ist und immer vor dem Spiegel ihre kugelsichere Weste anzieht. Sie kennt die Garagenwerkstatt des Vaters, der nur noch hofft, daß alles bald vorbei ist. Sie kennt Alice, Bannisters Mutter, eine runde, wuchtige Frau mit verschwollenen Augen und jener bleiernen Erschöpfung im Gesicht, die sich wohl einstellen muß, wenn man fünf Kinder und 19 Pflegekinder großgezogen hat und sich nun zum zweiten Mal darauf vorbereitet, die Hinrichtung des eigenen Sohnes mit anzusehen.

Ein Knopfdruck mit der Fernbedienung – und Missouri verschwindet aus der kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil Winterhude. Rechts neben Nina Stahl auf dem Sofa sitzt eine Versammlung von Stofftieren und eine Alfpuppe mit „Nullo Problemo“- T-Shirt. Allein das grünlich- braune Ölgemälde von Che Guevara will zu dieser Gute-Stube-Atmosphäre nicht ganz passen. Darunter sitzt sie mit sorgfältig hochgesteckten Haaren, die wiederum nicht so ganz zu ihrer Latzhose passen, und ist ein wenig irritiert, weil sich eine Journalistin für sie interessiert, wo es doch eigentlich nur um ihn gehen müßte.

Links liegt der Schnellhefter mit allen Briefen, die ihr Allan Jeffrey Bannister aus dem Todestrakt des US-Bundesstaates Missouri bisher geschrieben hat, und der Kopie einer Anordnung des Obersten Gerichtshofes von Missouri, wonach besagter Allan Jeffrey Bannister am 22. Oktober „den Tod erleiden wird“. Ausgehändigt am 24. September. Über E-Mail und Telefonkette war die Nachricht in Hamburg angekommen. „Mittwoch geht's rund“, sagt Nina Stahl, was schnoddrig klingen soll, aber doch ins Hilflose rutscht. Die letzten Nächte hat sie kaum geschlafen. Die Baldriantropfen nützen nichts mehr. Tagsüber geht es besser. Da kann die 34jährige telefonieren oder Unterschriften sammeln, Hilfsappelle an Gott und die Welt – darunter Bill Clinton und Gregor Gysi – schreiben. Seit zwei Jahren vergeht kein Kneipenbesuch, keine Familienfeier, keine Party, bei der sie nicht Petitionen für Allans Begnadigung herumreicht. Das hat sie ein paar Freundschaften gekostet, ihr eine Menge Anerkennung eingebracht – aber auch das Gefühl, sich auf ein gespenstisches Terrain vorgewagt zu haben: auf dem man schließlich an den Punkt kommt, darüber nachzudenken, der Hinrichtung eines Menschen beizuwohnen. Als Nina sich das letzte Mal intensiv mit dem Thema Todesstrafe beschäftigte, war sie 14 Jahre alt und hatte sich mit Klassenkameraden in der Wolle, die die Köpfe von RAF- Gefangenen rollen lassen wollten.

Die Sache mit Bannister begann mit einer Postkarte. Ein paar ermutigende Sätze wollte sie ihm schreiben, nachdem sie ihn 1995 zum ersten Mal in jenem Fernsehfilm, der jetzt als Videokassette in ihrem Recorder steckt, gesehen hatte: Ein 39jähriger mit einem sorgfältig getrimmten Ziegenbart und Bauchansatz, der sich in den 14 Jahren seit seinem Todesurteil die Eloquenz eines guten Anwalts beigebracht hat, den er selbst nie hatte. Zwei Wochen später erhielt Nina Stahl eine seitenlange Antwort, die mit den Worten begann: „Es bedeutet mir mehr, als ich sagen kann, nicht vergessen zu werden...“

Seitdem schreiben sich die beiden. Sie über das Leben in Hamburg-Winterhude; über unwirsche Rentner, die ihr beim Unterschriftensammeln die Tür vor der Nase zuschlagen; über die Mutter, die ihr bei den Portokosten aushilft; über den Tod ihres Papageis oder ihren Job als Heilerzieherin, den sie nach einer „Umstrukturierung“ verloren hat. Das sind nicht gerade aufmunternde Neuigkeiten, aber sie kommen aus einer Welt, in der das Leben nach schlechten Nachrichten weitergeht. Er berichtet ihr von seinem letzten Hungerstreik gegen Schikanen der Gefängnisverwaltung; über die Exekution seines Mitinsassen und Freundes letzte Woche; über die vage Hoffnung, daß ein amerikanischer Sender vor dem 22. Oktober den Dokumentarfilm über ihn noch einmal ausstrahlen wird. Er sei „vorsichtig optimistisch“, schreibt er in seinem letzten Brief. Sieben Hinrichtungstermine hat er bislang überlebt.

Beim letzen Mal kam der Aufschub durch den Obersten Gerichtshof der USA zwei Stunden vor der geplanten Exekution. Die amerikanische Justiz hat einen makabren Sinn für Dramaturgie. Ein Knopfdruck mit der Fernbedienung, und Bannisters Mutter ist wieder im Winterhuder Wohnzimmer. Nachts vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Missouri mit versteinerter Miene und in dem sicheren Glauben, in wenigen Minuten als Zeugin zur Exekution ihres Sohnes gerufen zu werden. Dann Minuten später mit Tränen in den Augen und einem kaum erkennbaren Lächeln.

Allan Jeffrey Bannister ist ein Todeskandidat mit weißer Hautfarbe, dem das Formulieren politischer Statements fernliegt. Deshalb erregt sein Fall nicht die Gemüter europäischer Intellektueller wie Pierre Bourdieu oder Elfriede Jelinek, die sich vor zwei Jahren in einer massiven Kampagne für den Afroamerikaner Mumia Abu- Jamal eingesetzt hatten, der in Pennsylvania wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilt worden ist. Daß Bannister trotzdem international bekannter ist als die meisten der über 3.000 zum Tode Verurteilten in den USA, verdankt er zwei Umständen: Zum einen zitierte die UNO-Menschenrechtskommission die erbärmliche Vorstellung von Bannisters Pflichtverteidiger, der zur Vorbereitung auf den Mordprozeß mit seinem Mandanten etwa eine Stunde verbracht hatte, als exemplarisches Beispiel für den völlig inadäquaten Rechtsbeistand für Todeskandidaten. Zum anderen hat Bannister etwa zwei Dutzend BrieffreundInnen in Australien, den USA und Europa, die für neue Anwälte Geld gesammelt haben, Bittbriefe an Zeitungen in Missouri aufsetzen, eine Website im Internet betreuen. Eine von ihnen, die Britin Lindsey Graham, hat ihn nach mehreren Besuchen im Gefängnis 1993 geheiratet und ist nach Missouri gezogen.

Frauen stellen die große Mehrheit derer, die mit Todeskandidaten (Brief-)Freundschaften geknüpft haben. Mindestens 200 sind es in Deutschland, seit die Menschenrechtsorganisation amnesty international Anfang der achtziger Jahre Korrespondenzen zwischen ihren Mitgliedern und zum Tode Verurteilten initiierte und ihrer deutschen Sektion dabei die Bundesstaaten Texas und Missouri zuteilte. Oft sind es die Insassen, die sich als Briefpartner eine Frau wünschen. Und in der Regel sind Frauen eher bereit, sich auf eine Korrespondenz mit jemandem einzulassen, der viel über die Angst und den Umgang mit seinem angekündigten Tod schreiben wird. Einige wenige wie Lindsey Graham werfen ihr Leben über den Haufen und verknüpfen es auf das engste mit dem des Verurteilten. Von außen betrachtet ein verrückter Schritt, aber für die, die solche Brieffreundschaften führen, ist er so unnachvollziehbar nicht: Manche Menschen, die aus welchen Gründen auch immer gezwungen sind, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, können eine enorme Ausstrahlung und Würde entwickeln – auch in einem Todestrakt, der das Stein gewordene Gegenteil von Würde ist.

„Wenn man über Jahre hinweg mit jemandem kommuniziert, der nichts mehr zu verstecken und verlieren hat, dann entwickelt sich so etwas wie eine Seelenpartnerschaft“, sagt Kirsten Encke, eine 33jährige Regieassistentin, die vor zehn Jahren ihren ersten Brief an einen Todeskandidaten in Texas schrieb. Damals hätte sie sich nie vorstellen können, daß sie den Mann später regelmäßig besuchen und mit dem Mut der Verzweiflung bei Talkshow-Auftritten über 70.000 Mark für einen neuen Anwalt sammeln würde. Nach Missouri zu fliegen und dort den achten Countdown zu Bannisters Hinrichtung zu erleben, hat Nina Stahl ausgeschlossen. Nicht weil ihr die Idee verrückt erschiene, sondern weil sie Angst hat, „daß ich das Ganze dann nie mehr vergessen kann.“

Sie holt per Knopfdruck den Gouverneur von Missouri herbei. Ein grauhaariger Mann mit kantigem, errötetem Gesicht, der eine Spur zu nachdrücklich versichert, er habe volles Vertrauen in das amerikanische Justizwesen. Jedenfalls weiß man, daß Mel Carnahan seine Zweifel an der Praxis der Todesstrafe hat. Im Gegensatz zu den meisten seiner Amtskollegen hat er in den letzten Jahren häufiger von seinem Recht Gebrauch gemacht, Todeskandidaten zu begnadigen. Jedesmal handelte sich Mel Carnahan dabei massiven innenpolitischen Ärger ein. Nun entscheidet er ganz allein darüber, ob Allan Bannister am Mittwoch exekutiert wird. Bannisters „vorsichtiger Optimismus“ gründet sich allein auf diesen grauhaarigen Mann und auf die Hoffnung, daß ein paar tausend Appelle per Brief, Fax und E-Mail aus den USA, Australien, Europa und Hamburg-Winterhude bis zum 22. Oktober nicht spurlos an Gouverneur Carnahan vorübergehen. „Letztes Mal hat Allan kalorienarmen Kuchen für die Henkersmahlzeit bestellt“, sagt Nina Stahl und lächelt gequält. Solange einer dem Tod und seiner Verwaltung so frech die Zunge herausstreckt, kann ja noch nicht alles verloren sein.

Der Staatsanwalt, ein jovialer Mittfünfziger mit hoher Stirn, schaut jetzt ins Wohnzimmer und sagt mit gewinnendem Lächeln, daß er aufgrund seiner inneren Überzeugung für Bannister die Todesstrafe gefordert habe. „Ich war im Krieg und habe viele Menschen sterben sehen. Ich bin daran gewöhnt.“ Che Guevara starrt ungerührt von der Wand, während Nina Stahl die Fassung verliert. Unzählige Male hat sie den Film gesehen, aber „an dieser Stelle raste ich immer wieder aus“. Sie drückt auf den Knopf der Fernbedienung, und man hört nur noch das Kratzen aus der Nachbarwohnung, wo gerade renoviert wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen