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Pflaumen und lauwarmer Tee

Gestern nachmittag in Schlingensiefs Bahnhofsmission  ■ Von Lisa Schönemann

Die Milch in der Tüte steht kurz vor der Säuernis. Die Heilsarmeekostüme der Schauspielerinnen sind alles andere als frisch gebügelt. Die unrasierten Männer, die sich am Dienstag nachmittag in Schlingensiefs Bahnhofsmission umschauen, stört das nicht. Ihre schlurfenden Schritte wirbeln in der nur notdürftig gefegten ehemaligen Revierwache 11 an der Kirchenallee den Staub auf.

Irgendjemand hatte Horst Vierus ein Flugblatt in die Hand gedrückt, das dem Obdachlosen einen warmen Tee verheißt. Da hat er sich gleich auf den Weg über den Bahnhofsvorplatz gemacht. „Es ist schon zu kalt, um den ganzen Tag draußen herumzulaufen“, sagt der vom Alkoholentzug zitternde Mann. „Nach fast 19 Jahren auf Platte spürt man den Winter in den Knochen, bevor er da ist.“

Die junge Schauspielerin mit der Heilsarmeemütze schöpft mit einer Suppenkelle lauwarmen Tee aus einem gelben Plastikcontainer. Brot kommt erst in einer halben Stunde, die Gulaschsuppe gegen Abend. Horst Vierus entscheidet sich für eine Pflaume aus der fast leeren Stiege und trollt sich. „Es ist irre, mit welch minimalen Dingen man 'n Penner oder 'n Junkie für ein paar Minuten glücklich machen kann“, sinniert das vermeintliche Fräulein von der Heilsarmee.

Wo bis Ende vorigen Jahres Polizisten sich um mehr als Randnotizen im Polizeiskandal bemühten, stehen jetzt acht Doppelstockbetten aus Metall. Eine drogenabhängige Frau hat sich unter einer grauen Wolldecke zusammengerollt, ein Bett weiter blendet ein erschöpftes Pärchen den Alltag aus. Nur für eine halbe Stunde nicht an die Droge denken. Der junge Mann hat seine verspiegelte Sonnenbrille sorgfältig auf einem Hocker plaziert, bevor sie eingeschlafen sind.

Auf drei Monitoren laufen pausenlos Videos vom montäglichen Besuch bei den Scientologen und der Performance im Sex-Shop, die auch zu Schlingensiefs Konzept gehören. Die unerträgliche Geräuschkulisse macht den Raum mit dem nackten Betonfußboden noch unwirtlicher. Dicke Polizeibeamte schnarchen auf alten Stühlen oder hämmern auf einer Triumph-Schreibmaschine herum.

Auf dem Spendentisch stapeln sich warme Kleidung, Bettlaken, ein Lampenschirm und eine Dose Enthaarungscreme. Aber Stefan Kleinert will keinen Pullover, sondern Groschen. Einige wenige Münzen klirren in seinem zerknüllten Cola-Becher. „Ich hab' doch vor ein paar Monaten meinen Arm verloren“, sagt der 23jährige. Bis dato sei er ein „glücklicher Junge“gewesen. Und Berufskraftfahrer. Jetzt streunt er ziellos herum. „Das Leben geht weiter, als sei man nie dabeigewesen“, dröhnt eine Stimme aus dem Lautsprecher.

Die Mission ist heute noch von 12-24 Uhr geöffnet. Um 20 Uhr werden gemeinsam Schutzräume unter dem Bahnhof besucht.

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