: „So genau habe ich gezeichnet“
Thomas Geve hat als Kind drei Konzentrationslager überlebt. Nach seiner Befreiung hat der Zwölfjährige Bilder über die Lagerwelt gemalt. Die Gedenkstätte Buchenwald veröffentlicht diesen kindlichen Bilderzyklus über Selektionen und Todesmärsche ■ Von Thekla Dannenberg
Wenn Thomas Geve seine Geschichte erzählt, dann beschreibt er eigentlich Bilder, die niemand sehen wollte. Als er seine Autobiographie schrieb, sollte sie eine Erklärung der Zeichnungen sein, die er als Junge von 15 Jahren angefertigt hat. Sie sind „schlechte Malerei, naive Kunst“, wie der heute in Haifa lebende Bauingenieur meint, der den Namen Thomas Geve als Pseudonym benutzt.
Sie dokumentieren präzise einen Ort, an den sich später kaum jemand mehr wagte, ohne zu abstrahieren: Aus drei Konzentrationslagern, in denen er als Kind interniert war, hat Thomas Geve seine Erlebnisse bis ins kleinste Detail chronologisch aufgezeichnet. Er hat einen Zyklus von Bildern hinterlassen, der an der Rampe von Auschwitz beginnt und mit der Befreiung von Buchenwald endet.
Die Gedenkstätte Buchenwald veröffentlichte nun zum ersten Mal diesen umfangreichen Bilderzyklus in einem Katalog. Ihr Leiter, Volkhard Knigge, vergleicht diese gemalte Biographie eines Kindes in seiner Bedeutung mit dem Tagebuch der Anne Frank, allerdings als Gegenstück. Diese authentische und chronologische Überlieferungsgeschichte setze dort an, „wo Annes Tagebuch aufhört“.
Im Sommer 1943 wurde Thomas Geve zusammen mit seiner Mutter nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Bis dahin lebte er als Mitarbeiter des Friedhofs in Weißensee als einer der letzten Juden legal in Berlin. Sein Vater hatte sich 1939 nach London retten können; durch den Ausbruch des Krieges konnten ihm der Junge und die Mutter nicht mehr folgen.
Kräftig und groß gewachsen ist der damals zwölfjährige Thomas Geve einer Maurerschule zugeteilt worden, als jüngster unter den Geringen. Doch es hat ihm das Leben gerettet, daß er sich als „nützlich“ erweisen konnte. Wie andere Jugendliche in Auschwitz war auch Geve immer auf die Protektion eines Erwachsenen angewiesen. Seine Mutter hat er nur einmal im Frauenlager von Auschwitz sehen können. Bei der Evakuierung von Auschwitz vor dem Eintreffen der Roten Armee ist Thomas Geve nach Groß-Rosen und schließlich nach Buchenwald deportiert worden.
Nach der Befreiung von Buchenwald ist Thomas Geve so geschwächt, daß er seine Baracke nicht verlassen kann. Freunde bringen ihm aus den verlassenen SS-Schreibstuben Papier und Stifte: einseitig bedruckte NSDAP-Formulare und Bleistiftstummel, nicht länger als drei Zentimeter.
Wie in einem Schub malt Thomas Geve zwei Monate lang ein Bild nach dem anderen. Schon in Auschwitz hatte er auf Zementsackfetzen begonnen, einzelne Erlebnisse aufzuschreiben, die er allerdings zurücklassen mußte.
Nun wählt er einprägsame Bilder, auf denen er jede Einzelheit festhalten kann. Zuvor hatte er nie gemalt, danach wird er es nie wieder tun. Unberührt von späteren Tabus, künstlerischen oder historischen Diskussionen, zeichnet er auf postkartengroßen Zetteln; atemlos buchstabiert er das gesamte System der Konzentrationslager durch.
Akribisch zeichnet er Essensrationen, das System der Wimpel und Tätowierungen auf, den Tagesablauf, aber auch die Firmen, in denen die Häftlinge als Zwangsarbeiter schufteten. Mit seinen Buntstiften dringt er bis in die Gaskammern und das Lagerbordell vor. Er malt Apelle, Fluchtversuche, die „Desinfektionen“ und den Hochspannungszaun. Eine enorme Erinnerungsleistung, aber auch Phantasie lassen den jungen Geve die beiden Konzentrationslager Birkenau und Buchenwald sogar aus der Vogelperspektive maßstabsgetreu wiedergeben.
Die Bilder sind mit den Fähigkeiten eines Kindes gemalt. Die Figuren sind winzig und gesichtslos. Zum Teil ordnet er sie in geometrische Rahmen ein. Auf einigen Bildern muß er schriftlich Erklärungen hinzufügen. Ursprünglich waren sie dazu gedacht, seinem Vater später einmal seine Erlebnisse anschaulich zu machen. Doch mittlerweile sind sie die Verbindung zwischen dem heutigen erwachsenen Mann und seinen Erlebnissen als Kind.
Um sich an seine Erlebnisse zu erinnern, hat Thomas Geve eine so eigene Bildsprache entwickelt, daß sie schon einmal die Wirklichkeit überlagert. So spricht er immer, wenn er SS-Offiziere meint, von „gelben Herrschern“. Es habe eben keine grauen oder schwarzen Stifte gegeben, mit denen er ihre Uniformen malen konnte, erklärt Geve. Außerdem mußte die Farbe die Peiniger auf den ersten Blick von den blau gemalten Häftlingen unterscheiden lassen.
Jahrzentelang hat Geve sich seine Bilder nicht mehr angesehen. Zu seinem 16. Geburtstag hat seine Pflegefamilie ihm ein Album mit den sorgsam eingeklebten Bildern geschenkt. Als Geve sich im Jahr 1950 entschloß, von England aus nach Israel zu gehen, ließ er sie in Birmingham in einem Safe verschließen. Erst Anfang der 80er Jahre hat er sie dort herausgeholt und Yad Vashem gestiftet. Die Jerusalemer Gedenkstätte hatte die Bilder mühevoll restauriert und sie nun erstmals, nach langem Zögern, nach Deutschland ausgeliehen. In ihren Beständen gibt es nichts, was das Verfolgungsschicksal von Kindern auch nur annähernd so vor Augen zu führen vermag. Die Gedenkstätte Buchenwald plant nun, sie in einer Wanderausstellung in mehreren Städten zu präsentieren.
Die Bilder sind die Grenze, bis zu der sich Geve in seiner Erinnerung wagt. Sie sind zum Ersatz seiner Erlebnisse geworden. Das schützt – vor allzu schlimmen Erinnerungen, vor Distanzlosigkeit und überwältigenden Gefühlen. Als Thomas Geve zum ersten Mal nach 50 Jahren die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald besuchte, blieb er verwirrt vor dem Eingangstor stehen und bemerkte erstaunt über sich selbst: „Sieh an, so genau habe ich gezeichnet!“
Thomas Geve: „Es gibt hier keine Kinder“. Wallstein-Verlag, Göttingen 1997, 152 Seiten, 43DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen