piwik no script img

Viele Freunde und ein Volkschor für alle

■ Christoph Schlingensief zeigte in der Hamburger Bahnhofsmission, daß Theater und Welt keine Paralleluniversen sein müssen

Nach einer Woche war Christoph Schlingensief schon sichtbar ausgemergelt, beinahe vollbärtig und mächtig heiser. „7 Tage Notruf für Deutschland“ hatten ihre Spuren hinterlassen, aber die führten – nicht trotz, sondern selbstverständlich wegen aller Entbehrungen – konsequent zum Weiterrufen.

Wie eine Springmaus auf Speed hüpfte der seit 168 Stunden amtierende Comandante en jefe der seit 168 Stunden existierenden Bahnhofsmission über die Bühne und singsanggrölte, was die Kehle noch hergab: „Deer Blick in daas Gesicht eines Menschen, dem gehooolfen ist, ist der Blick in eine schöhöne Gegend.“ Und dann, den Zeigefinger wahllos zielsicher ins Publikum schleudernd: „Freund! Freund! Freund!“

Aha, oho, Bertolt Brecht, mag da der Literaturfreund denken. Richtig und doch weit gefehlt. „Freund! Freund! Freund!“ so bewies das Echo von allen Seiten, ist unsere neue Erkennungsmelodie. Heute Hamburg und morgen die ganze Republik. „Wollt ihr ein neues Theater?“ brüllte der Mann am Mikrophon. „Jaaa!“ schrie der Saal. Was war geschehen?

Am Donnerstag, den 16. Oktober 1997 kam Christoph Schlingensief an die Macht. Mit einer großen Benefizgala zugunsten aller Entrechteten und Enterbten eröffnete der in Sachen Film, Theater und Talkshow gleichermaßen durch Dilettantismus brillierende große Junge im Auftrag des Deutschen Schauspielhauses die Inszenierung „Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“. Über die genauen Einzelheiten des Auftrags hatte man sich offensichtlich nicht zu aller Zufriedenheit geeinigt. „Ich hab' gleich gesagt, laßt uns die Fassade abreißen, die Stühle umdrehen und den Blick auf den Hauptbahnhof, das ganze soziale Elend da freigeben“, rief Schlingensief ins ausverkaufte Haus. „Das Theater muß ins Leben!“ Aus technischen Gründen blieb die Umsetzung dieses Vorschlags versagt, doch ein lokallogistischer Glücksfall ermöglichte den Umzug der Truppe in eine benachbarte Expolizeiwache. Hier wurden in der folgenden Woche Tee und Suppe an eine stetig wachsende Schar von Obdachlosen, Prostituierten und Fixern vom umliegenden Kiez ausgeschenkt. Und hier – was sich plötzlich, trotz aller Brechtscher Magen-vor-Kunst- Theorie als ebenso wichtig herausstellen sollte – gab es ein frei zugängliches Mikrophon.

„Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“, hieß die Losung, unter der sich allabendlich eine krude Mischung aus Künstlern, Schaulustigen, Tatwilligen und „Abgeschalteten“ der Mediengesellschaft, wie Erweckungsanimateur Schlingensief sie nannte, zu einem situationistischen Kreaturenkunstwerk zusammenfand. Er wollte einen Volkschor, und den bekam er. Auch der Volkschor bekam, was er wollte: mehr.

Täglich zogen Schlingensief und Gefolgschaft in Polizeiuniformen durch die Hamburger Innenstadt, um in absurd plärrig erweiterter Tradition des Unsichtbaren Theaters die Grenze zwischen Theater und Leben aufzuweichen. Nicht immer zum eigenen Vorteil: Von einem paranoiden Skinhead bekam Schlingensief im Bahnhof eins auf die Nase, und als Bernhard Schütz mit einer Kolik vor dem Rathaus zusammenbrach, wollte kein Arzt ihn ernst nehmen. Fast immer aber zum allgemeinen Vergnügen: Der Besuch bei den Scientologen, aufgelockert durch eine Polonaise und chorales „Halleluja!“-Gekreische, gehört fraglos zu den schönsten Kunststücken des Jahres.

Christoph Schlingensief, der gestern seinen 37. Geburtstag feierte, wollte in Hamburg mit seinem ewigen Image des Enfant terrible Schluß machen. Ein Moralist kleinbürgerlicher Herkunft sei er, „zu helfen“ sein wahres Glück. Schlingensief provozierte weniger, als daß er tief irritierte: Vor lauter lustiger Gutmenschlichkeit unterlief er die gültige Ordnung von Gucken und Machen, Mitleid oder Aggression.

Und mit einem genialischen Dreh gelang es ihm am Ende sogar, den Zynikvorwurf, der sein Spektakel von Anfang an begleitete, an die Betroffenheitsgesellschaft zurückzugeben. „Die Staffel ist überreicht“, verabschiedete er sich bübisch grinsend von Intendant Frank Baumbauer und dem designierten Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde.

Ab Montag, und dafür will sich Runde einsetzen, könnten bereits vier Container zur Fortführung des Projekts am Bahnhof stehen. Im Jahre 40 nach Brecht und zwei vor der Jahrtausendwende, mitten in der schönsten Postmoderne, hat Christoph Schlingensief allen gezeigt, daß Theater und Welt keine Paralleluniversen sind. Christiane Kühl

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen