Die Wahrnehmung kurz vorm Verrecken

■ Drei Fotografinnen und eine Malerin suchen in der Galerie Buntentor nach Wirklichkeit – unterschiedlich

Lüsterner Wunsch: den menschlichen Körper auf die Bildfläche zu zwingen, ganz unmittelbar, ohne den mühseligen Umweg über den Pinsel einzuschlagen. Yves Klein erfüllte ihn sich. Blaugefärbte Modelle durften sich auf seinen Leinwänden wälzen. Stramme Schenkel und fette Brüste sind die Folge dieses (in den seligen 60er Jahren noch orgiastisch wirkenden) Quetsch-Abdruck-Verfahrens.

Katrine le Gallous Vorgehen ist weit subtiler. Wie Man Ray macht sie Fotos ohne Kamera, – quasi ressourcenschonend die (doch nicht so omnipotente) High tech austricksend. Eine Frau/ein Mann legt sich auf ein großes Stück Fotopapier. Die lustige Französin mit dem neckischen Topfhut fährt dann mit einer stark fokusierten Lampe den Körperkonturen entlang, nicht einmal, mehrfach – in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Abständen, Winkeln. Das Lampenlicht arbeitet sich in Achselhöhlen vor, glotzt durch abgewinkelte Beine hindurch, sucht, findet. Der Körper spiegelt sich auf dem Papier wieder als Überlagerung von Schattenrissen, kubistisch gebrochen und verwinkelt: fast als sähe man einen schemenhaften Körper mitten in loderndem Feuer. Hexenverbrennungen in Schwarz-Weiß. Wie langweilig sind daneben die Aktbilder der Parfume-Werbung. Ein interessanter Weg im ausgelutschten Genre Aktfotografie.

In den schweren Gemäuern der Städtischen Galerie im Buntentor sind diese Körper-Reflexionen zusammen mit Arbeiten der Fotografinnen Tine Herrmann und Anne Barnard und Mini-Gemälden von Anette Venzlaff zu sehen.

Die Amerikanerin Barnard zeigt Natur nicht im großen Rundumschlag als Sightseeing-Prospekt, sondern so wie man sie vielleicht von einem Bunkerschlitz aus erspähen könnte – fragmentarisch und verwischt. Und manchmal landet der Blick mitten im Gestrüpp. Es wuchert im Park von Fontainebleau, abseits des Hoheitsgebiets der Gärtnerscheren. Aber die Fotografin will mehr als „nur“abbilden. Sie sucht nach Analogien zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos mit ähnlicher Heftigkeit wie Goethe einst nach seiner heißersehnten Urpflanze. Mysteriöse pechschwarze Stäbe, Punkte, Quallen schweben durch die kleinen, sehschärfeschulenden Bilder. Beim Abziehen der Fotografien wurden nämlich Schablonen in Form von Zellkörpern ins Naturbild hineinkopiert. Ein Baumstamm pflegt plötzlich ein verwandtschaftliches Verhältnis mit einem mikrobiologischen Geschöpf. Blatthäufungen bilden sich ein, sie hätten etwas zu tun mit Zellhäufungen. Alles ist eins, alles gehorcht denselben Gesetzen, die Welt ist ein unteilbares Ganzes: ein schöner Gedanke, natürlich ein grundfalscher Gedanke, der allerdings wunderschöne Bilder zur Entstehung verhalf.

Gastgeberin Tine Herrmann untersucht in einem 60 Bilder reichen Zyklus (davon circa ein Viertel ausgestellt) bescheidene 50 Meter einer Pariser Straße: Intensivierung durch Beschränkung, seit jeher die Lebens- und Arbeitseinstellung der Bremerin. Das Nichtige wird gewichtig: Viel Pflasterwerk, viel Mauerwerk ist zu sehen, aber nicht irgendwie, sondern aus der verschreckten, aber auch verdichtenden Perspektive eines zu Tode gehetzten Menschen. Häuserfassaden torkeln, Asphalt flutscht unter rasendem Lauf durch die Beine hindurch, Bahngleise zoomen sich direkt vor die Nase hin. Hier wird der Wahrnehmung der letzten Lebenssekunden nachgespürt. Der Grund: Ein Onkel der Fotografin wurde im 2. Weltkrieg in eben jener Straße erschossen.

Mut zur Idylle dagegen beweist Anette Venzlaff. Wie alle schönen Dinge sind ihre Naturtableaus allerdings sehr flüchtig. Eine Baumgruppe konnte gerade noch im letzten Moment abgefangen werden, ehe sie im Nebel untertaucht. Bei einer Flußlandschaft wirkt die Realität kaum griffiger als das Spiegelbild. Und Kinder- und Clownsgesichter verwandeln sich vollends ins Fratzenhafte. Mitten in Venzlaffs kleinen Bildern thront ein Herz, ein Glas, ein Vogel - ein so seltsames Sammelsurium von Totem und Lebendigem, daß über jedem Ding ein unsichtbares Fragezeichen zu schweben scheint. Nicht immer ist sich der Betrachter sicher, ob dieses Fragezeichen anregt oder langweilt. Beeindruckende Ausstellung. bk

Städtische Galerie, Buntentorsteinweg 112, Dauer: bis 23.11., Di-Fr 10-16 h, So 11-16h