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Wir woll'n so bleiben wie wir sind

Neukölln wehrt sich gegen den „Spiegel“: Eine aufgebrachte BVV-Versammlung und eine Unterschriftenaktion gegen einen „rufschädigenden“ Artikel.  ■ Von Barbara Bollwahn

Neukölln setzt sich zur Wehr: Nachdem der Spiegel vor zwei Wochen in boulevardesker Räuberpistolen-Manier über den bevölkerungsreichsten Bezirk der Hauptstadt Berlin geschrieben hatte, holt der Bezirk Neukölln jetzt zum Gegenschlag aus. Ab heute sind alle Neuköllner aufgerufen, den Ruf ihres Bezirkes zu verteidigen. Eva Willig, die von 1989 bis 1991 für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) saß und jetzt in der „Lokalen Agenda“ tätig ist, will das von dem Nachrichtenmagazin gezeichnete Negativbild nicht auf sich sitzen lassen. „Jemand muß den Stein ins Wasser werfen, der Kreise zieht“, sagt sie.

Deshalb wird Eva Willig heute, morgen und am Dienstag (10 bis 13 Uhr) vor dem Rathaus in der Karl-Marx stehen, um „positive Aussagen“ zu sammeln. Sie hofft, dem Nachrichtenmagazin, „das einfach nur Zahlen ohne Bezugsgrößen“ aneinandergereiht habe, „einen Waschkorb“ voller positiver Reaktionen übergeben zu können. Moralische und finanzielle Rückendeckung erhält die 49jährige unter anderem von den Aktionsgemeinschaften der Karl-Marx- und Hermannstraße und der Sonnenallee. „Wir liegen unter den Bezirken zwar im unteren Bereich“, sagt Eva Willig, „aber wir sind weder eine Prolo- Hochburg noch die Bronx von Deutschland.“

Dieser Meinung sind auch die meisten BVV-Abgeordneten. Bezirksbürgermeister Bodo Manegold (CDU) bezeichnete den Spiegel-Artikel als „Rufmord an einem ganzen Bezirk“. Manegold warf dem Nachrichtenmagazin vor, Neukölln „in einem Rundumschlag als asoziales Ghetto zu verurteilen“, indem Polizeiberichte „sensationslüstern“ zusammengetragen und „sicherlich vorhandene Mißstände stark übertrieben“ dargestellt worden seien. Zudem trage der Artikel „stark rassistische Züge“. Außerdem seien die im Spiegel-Artikel beschriebenen „Brennpunkte wie Kriminalität, Verschmutzung und Arbeitslosigkeit“ schon „häufig Beratungsgegenstand“ in der BVV gewesen. Letztlich warb Manegold für Souveränität: „Neukölln wird an dieser Provokation nicht zugrundegehen“, sagte er. „Vielmehr wird Neukölln immer bleiben, wie es stets war: Rauh, aber herzlich, mit Ecken und Kanten, aber auch einzigartig und liebenswert.“

Kritik hagelte es nur aus den eigenen Reihen. Als Manegold die Antworten der Innenverwaltung zu zwei großen Anfragen der CDU zu den Themen Kriminalitätsschwerpunkte und Jugendkriminalität bekanntgab, rief er den CDU- Fraktionsvorsitzenden Peter Fissenewert auf den Plan. Der nannte die Angaben der Innenverwaltung „ernüchternd bis ärgerlich“. Es gefiel ihm nicht, daß die Polizei nicht von „Brennpunkten“ in Neukölln sprach und außerdem feststellte, daß es im Bereich Hermannplatz „keine auffällige Häufung von Betäubungsmitteldelikten“ gebe. Fissenewert schlug hingegen vor, den Hermannplatz mit Videokameras überwachen zu lassen.

Auch mit der hilflosen Prognose der Polizei für den Volkspark Hasenheide, der in den letzten Jahren zum Verkaufsplatz weicher Drogen geworden ist, wollte sich Fissenewert nicht abfinden. „Der Eintritt der kälteren Jahreszeit läßt nun auf einen saison- sowie polizeilich maßnahmebedingten Rückgang der erwähnten Straftaten hoffen“, hieß es wetterfroschmäßig aus der Innenverwaltung. „Ich fühle mich von der Polizei verschaukelt“, sagte Fissenewert. Es sei außerdem „eine Frechheit“, daß die Innenverwaltung keine Aussage über eine Rangfolge Neuköllns in der Kriminalitätsstatistik machen wollte.

Fissenewert, der in einem Rundumschlag in Sachen Sauberkeit davon sprach, daß sich die Leute in Neukölln „wie Wildschweine benehmen“, ist einer der wenigen in der BVV Neukölln, dem der Spiegel-Artikel aus dem Herzen spricht: „Das ist ein Spiegelbild dessen, wie über Neukölln in der Stadt“ geredet werde.

Leicht hat es Neukölln in der Tat nicht. Die Glücksgöttin, die in einem zweieinhalb Meter großen Bronzeguß auf dem Rathausturm steht, macht ihrem Namen wenig Ehre: 30.000 Arbeitslose, 50.000 Sozialhilfeempfänger, mindestens 1.000 Jugendliche ohne Arbeit, jedes vierte Kind lebt von Stütze, jedes 7. Kind ist schon einmal straffällig geworden, — so die nackten Zahlen. „Da muß man sich nicht wundern“, sagte der Stadtrat für Jugend und Sport, Heinz Buschkowsky. Der Sozialdemokrat räumte ein, daß viele Dinge, „die vom Gesetz auferlegt werden“, einfach nicht wahrgenommen werden könnten, weil das Geld fehle. Deshalb dürfe es nicht darum gehen, „mit Klischees zu arbeiten“, sondern um einen „Werteausgleich“ zu kämpfen. Das heißt, mehr Stellen und mehr Sachmittel für den Bezirk. Doch die Stadt- und Bezirkskassen sind leer.

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