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Himmlische Überholfahrt

■ „Bernadetje“: rasante Eröffnung der „stage attacks“auf Kampnagel

Der Himmel ist ein Stahlgerüst und hängt ziemlich tief. Ein cooler Typ posiert darauf, unten keift seine Freundin, unverständlich, unaufhörlich. Eine dralle Blondine im Fakepelz auf Stöckelschuhen wandelt lallend ihre Einsamkeit in Vorwürfe: Mit der Zigarette im Mundwinkel pöbelt sie gegen den Taxifahrer, ihren Fahrer, der sich hinter seiner schwarzen Sonnebrille versteckt, weil er faul ist, ein Betrüger, ein Schwein und ein Sex-Maniac. Mädchen in Schuluniformen wackeln mit den Hüften.

Früher war das anders. Da war der Himmel nicht nur blau, sondern rein. Heilig. Wo der Regisseur Arne Sierens groß wurde, gab es einen Wallfahrtsort, den die Belgier, nicht eben in einem Anfall von Originalität, „Lourdes-Oostakker“getauft hatten. Da stand Bernadette die Zweite, von den Flamen zärtlich „Bernadetje“genannt. Nun sollte man meinen, ein Ausflug zur heulenden Heiligen sei nicht gerade eines Sechsjährigen prickelndstes Sommererlebnis, aber weit gefehlt: Nebenan war nämlich ein kleiner Vergnügungspark. So mischten sich für Sierens früh Himmel und Hölle, Heiligtum und Laster. In Bernadetje, seiner jüngsten Produktion mit dem Choreographen Alain Platel, stellt er folgerichtig eine Marienerscheinung in den Auto-Scooter.

Bernadetje entstand 1996 für das Genter Theaterhaus Victoria, das Theater mit Jugendlichen für Jugendliche macht. Die Arbeit mit Amateuren, so Sierens, sei gar nicht so verschieden von der Profi-Arbeit: „Auch das 11jährige Mädchen, das bei uns auf der Bühne steht, hat eine Geschichte.“Schwierig war es nur, die immensen Energien der jungen Darsteller zu bündeln und zu strukturieren: „Das Stück war im Grunde nach einer Woche Improvisation fertig – als perfektes Chaos. Das Problem war nur, daß man Chaos nicht wiederholen kann.“Und mit einer weiteren Einschränkung mußten Sierens und Platel leben: Als erstmal der Scooter auf der Bühne aufgebaut war, interessierte sich niemand mehr für Religion. Im Kampf des Heiligen gegen das Profane unterlag Bernadetje gnadenlos.

Auf die Bühne brachten die Kids alles, was Spaß macht: laute Musik, kurze Röcke, schnelle Autos und die generationenvertragsgesicherte schlechte Laune von Pubertierenden. Endlich mal alles rausschreien. Super. Der Scooter wird zum Laufsteg, auf dem ohne Ende und äußerst begabt obszöne Faxen gemacht werden. Träume werden wahr: Der Junge, der die Chips ausgibt, strippt auf der Metallrampe, die blonde Süße kriegt ihre Karaoke-, das Kücken seine Mini-Playback-Chance, alle dürfen Scooter fahren, sehen hip aus und können geil tanzen. Die Menschen auf der Bühne sehen aus wie die Freunde, die man selbst nie gehabt hat, aber unbedingt gerne gehabt hätte – etwa zu der Zeit, als „Zusammenbleiben“sich noch konsequent auf den selben Abend bis 10 Uhr bezog.

Bernadetje erzählt keine Geschichte und transportiert keinen Inhalt. Bernadetje ist Energie pur, ist agressive Lebenslust, getanzt und geschrien von Jungs und Mädchen, deren Pathos noch Hunger entspringt. Besseres Jugendtheater gab es in Hamburg lange nicht zu sehen.

Christiane Kühl

noch heute, 20 Uhr, k2

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