: Hanseatische Menschenverächter
■ Die Anthologie „Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im ,Dritten Reich'“relativiert den Mythos vom liberalen Hamburg
Boykott, Zwangsveräußerung der Betriebe, Kontrolle über die Vermögen und schließlich Enteignung durch die Staatsmacht: Die sogenannte Arisierung folgte einer verbrecherischen Logik. Bereits Mitte 1935 waren „im Reich“etwa fast 25 Prozent aller jüdischen Betriebe liquidiert. „In Hamburg hatte die Benachteiligung jüdischer Firmen durch die staatlichen Behörden bereits Ende 1935 einen Grad erreicht, der die Verantwortlichen bewog, eine reichsweite Regelung in ihrem Sinne zu initiieren“, schreibt die Historikerin Gabriele Ferk. Daß die Geschichtsschreibung über die braune Vergangenheit der Elbmetropole bis heute Lücken hat, weisen die Autoren des von Angelika Ebbinghaus und Karsten Linne herausgegebenen Buchs Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im „Dritten Reich“mit großer Detailkenntnis nach.
So beschreibt Karl Heinz Roth den Schulterschluß der politischen mit den ökonomischen Machteliten in Hamburg (im angehängten Firmenregister fehlt kaum eine hanseatische Firma von Rang), taz-Autor Wilfried Weinke schildert die Verfolgung und Ermordung Hamburger jüdischer Rechtsanwälte am Beispiel von Max Eichholz und Herbert Michaelis.
Angelika Ebbinghaus holt in ihrem Beitrag den Universitätsprofessor Hans Bürger-Prinz vom Sockel. Der Ordinarius für Psychiatrie an dem Universitäts-Krankenhaus Eppendorf (1936-1965) hat bis zu seinem Tod an der Legende seiner angeblich oppositionellen Haltung gegenüber dem NS-Regime gestrickt. Die bereits vor zehn Jahren aufgedeckte Mitwirkung von Bürger-Prinz am Patienten-Mord und die erst jetzt durch Ebbinghaus erfolgte Durchsicht seiner als beratender Psychiater des Wehrkreises X gefertigten Selbstmordgutachten enttarnten sein Lügengebäude: Suizid von Soldaten begriff der Gutachter als die Folge „psychopathologischer Veranlagung“, was mögliche Versogungsansprüche Angehöriger ausschloß. Die naheliegendste Ursache für die Suizide, der Krieg, wurde von Bürger-Prinz „als Möglichkeit so gut wie nie in Erwägung gezogen“.
Der Fall ist nur eine Facette bei der Entzauberung des Mythos, im liberalen Hamburg sei alles doch gar nicht so schlimm gewesen. Weitere Beispiele, von der rücksichtslosen Unterdrückung des Arbeiterwiderstands bis zur, so der Psychologe Michael Wunder, „effektiven“Durchführung der Euthanasie, sind in dem erkenntnisstiftenden Buch nachzulesen. Volker Stahl
Angelika Ebbinghaus/Karsten Linne (Hg.): „Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im ,Dritten Reich'“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997, 556 Seiten, 64 Mark
Buchvorstellung: heute, 19.30 Uhr, Buchhandlung Seitenweise, Hammer Steindamm sowie am 25. November, 19.30 Heinrich-Heine-Buchhandlung, Schlüterstraße
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