: Ohne Empörungskitsch
Das Leipziger Dokumentarfilmfestival war früher eine „Tribüne gegen Imperialismus und Krieg“. Dieses Jahr wurde der 40. Geburtstag mit einer symbolischen Kinobesetzung gefeiert – herzlichen Glückwunsch! ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Manchmal riecht es nach Herbstlaub im Zetkinpark, manchmal ein bißchen nach früher. Alle Geruchsproduzenten hat der Westen noch nicht weggemacht, und ein paar Tage vor Beginn der 40. Leipziger Dokumentarfilmwoche veröffentlichte die Leipziger Volkszeitung ein melancholisches Foto, auf dem „die sowjetische Delegation im Klubhaus ,Freundschaft‘ des Kirow-Werkes“ freundliche Zustimmung bekundet. Die Genossen sind sich einig: „Die 10. Internationale Leipziger Dokumentarfilmwoche war eine ergreifende Veranstaltung und brachte die Welt dem Frieden näher.“
Etwas Ähnliches möchte man gerne über das „40. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm“ sagen, das am Sonntag zu Ende ging. In jedem Fall gab es unter den 330 Filmen des Festivals doch einige, die sehr bewegten und die Welt schöner machten, wie jedes gelungene Kunstwerk.
Und wie so oft in gelungenen Kunstwerken geht es eigentlich um traurige Dinge. In „Blight“ (Zerstörung) erzählt der englische Filmemacher John Smith 14 Minuten lang vom Abriß eines Hauses im Osten Londons. Wo früher Leute lebten, kommt jetzt die böse Autobahn. Blith vermeidet jeden Empörungskitsch. Immer wieder schaut die Kamera auf die verworfenen Dinge; Fahrradreste, ein Topf, ein Fußball, ein Klo. Erinnerungen an den früheren Gebrauch kommen auf einer perfekten Tonspur vorbei. Traurige Musik (Jocelyn Pook), Geräusche, ein zerfetztes altes Filmplakat, das den „Exorzisten“ mal ankündigte. Keine Bewohner; nur zwei Bauarbeiter, die eine Wand mit schöner Tapete einreißen. Einer von ihnen heißt „Mick“. Ein perfekter Videoclip, würde man sagen, wenn Videoclip nicht so abwertend klingen würde. Gab dann auch eine Goldene Taube für den besten kurzen Dokumentarfilm.
1965 bekam der Film „Now“ des kubanischen Regisseurs Santiago Alvarez den gleichen Preis. Seltsam, daß sich beide Filme ähneln, obgleich „Now“ ein eindeutig kämpferischer Film ist mit schnell geschnittenen Bildern von der US- amerikanischen Rassendiskriminierung und vom Vietnamkrieg. Aber eben auch ein kämpferischer Vorläufer des Videoclips. Alvarez, der Autodidakt, der über 600 Wochenschauen für die mittlerweile darniederliegende kubanische Filmprodukton drehte und dessen wunderbare Filme noch einmal in der Festivalretrospektive zu sehen waren, sieht mittlerweile sehr gebrechlich-schön aus und bekam eine Goldene Taube fürs großartige Lebenswerk.
Ausgelagertes Erinnerungsarchiv
Früher galt das Filmfest als „Tribüne gegen Imperialismus und Krieg“ (Jutta Voigt), nun ist man bemüht, sich irgendwie zwischen den anderen Festen zu positionieren. Aktuelle Dokumentarfilme aus dem ehemaligen Ostblock gab es dennoch nur in der Retrospektive. Dort gebe es keine intakten Strukturen mehr für die Filmproduktion, so Festivalchef Fred Gehler. Nur einen einzigen aktuellen russischen Film hätten die Festivalmacher entdeckt – „Demütiges Leben“ von Alexander Sokurow –, „und wir haben sehr, sehr genau Ausschau gehalten“. Ähnlich verhalte es sich in Polen, Rumänien und Bulgarien.
In Tschechien schaut es vielleicht anders aus. „Nicht gesehen“ von Miroslav Janek erhielt die Goldene Taube für die beste lange Dokumentation. Es geht um die Fotografierleidenschaft von Kindern der Prager „Jaroslaw-Jezek- Schule“. Eigentlich klingt das Thema sehr gewollt und ausgedacht. Doch nach dem Film versteht man, weshalb es für Blinde sehr sinnvoll ist, Fotos zu machen. Daß die Aufnahmen poetischer sind als die meisten Bilder sehender Fotorafen, war zu erwarten, doch auch für Blinde machen die Fotos Sinn. Sie sind eine Art ausgelagertes Erinnerungsarchiv, das sie Sehenden dann zeigen können.
Manche Filme sind durchgehend konventionell, bei anderen hat man in Passagen den Eindruck, daß da sozusagen unfilmische Gesichtspunkte eine Rolle spielten. In dem ansonsten gelungenen Leipzig-Film „Große weite Welt“ von Andreas Voigt, in dem der Filmemacher noch einmal nach acht Jahren Protagonisten seiner früheren Filme auftreten läßt, ist es die verkitschte Schlußszene, in der der ehemalige Rechts- und Linksskin „Papa“, der mittlerweile bei der Bundeswehr gelandet ist und sich ums Spießerglück bemüht, mit seiner Freundin im Auto auf einem leeren McDonald's-Drive-in vor Leipzig herumsteht, und beide denken an früher und machen sich Liebeserklärungen.
Der argentinische Filmemacher Fernando Birri hat einen langen, grauen, romantischen Bohemebart und bekommt eine Goldene Taube für sein Lebenswerk. Sein von arte finanzierter Film mit dem lehrerhaften Titel „Ché – Tod der Utopie“ ist eben auch schrecklicher arte-Blödsinn. Sein Filmteam fuhr durch viele Länder – England, Disneyland, Deutschland, Spanien, Bolivien, USA, Kuba natürlich usw. usf. – und fragte junge Menschen, ob sie Che Guevara und Tamara Bunke kennen, ob sie eine „Utopie“ haben und was denn ihre „Utopie“ sei. Zeugen Jehovas fragen einen auch immer solche Sachen. Nach der Vorstellung allerdings besetzte das Publikum kurzzeitig das ehemalige Filmkunsthaus „Casino“, das seit ein paar Jahren als Spekulationsobjekt leer steht. Alle umarmten einander, also klasse.
Das Dokfilmfestival ist das öffentliche, mehrdimensionale Fenster zur Welt; Erste Welt, Dritte Welt, Lokalgeschichte, Sozialgeschichte, Tagebuch, Timetunnel, Kunstkunst, eine ziemlich gute Animationsfilmsektion, die vor allem im Kabarett mit dem nicht ganz untypischen Namen „Sanftwut“ gezeigt wurde. (Sag dreimal „Sanftwut“, wenn du aus dem Westen bist, dann wirst du den Osten vielleicht besser verstehen.)
In der Retrospektive gab es selbstbewußt kämpferische Filme aus einer Zeit, in der man zweifelsfrei auf der richtigen Seite stand, was ja oft genug auch stimmte. Stalinismus, Faschismus, einen aidskranken Spion, der nach erfolgreicher Arbeit für die Stasi Ende der achtziger Jahre zu West-Geheimdiensten wechselte und unter Eppelmann NVA-Waffen verscheuerte und ab und an auch kifft im neuen, irgendwie auch sympathisch unordentlichen Film von Thomas Heise („Barluschke“); Jonas Mekas' sehnsüchtige Super-8- „Reminiscences of a Journey to Lithuania“ von 1972, die irgendwann in Elmshorn enden. Sex gab's auch, schonungslos in der Offenheit, die man an den Tag legt, wenn man meint, im Recht zu sein; oder man meint, im Recht zu sein, weil man so wunderbar offen ist, wie die Braunschweiger Filmprofessorin Birgit Hein schon seit Jahrzehnten. In ihrem eigentlich ganz schönen Tagebuchfilm „Baby I can make you sweat“ erzählt sie ihren Sextourismus nach Jamaika. Hans Höher, der freundliche Eingangsleiter und Eisverkäufer des Festivalkinos Capitol, verkauft „Eisvibratoren“. Und an den Internet-Bildschirmen spielt man Internet- Tetris.
Vom Glück des Heroinrausches
Einer der schönsten Filme des Festivals, „Bekenntnisse eines tollwütigen Hundes“, kam aus Kanada. Der Regisseur, John L'Ecuyer, hatte sieben Jahre lang als heroinsüchtiger Stricher in Montreal gelebt. In einer bewunderswert präzisen, poetischen Sprache erzählt er von der Droge und läßt andere Ex-Junkies erzählen. Die Bilder, der Soundtrack – so in etwa stellte man sich MTV damals vor, als man es noch nicht hatte. Die „Bekenntnisse“ brechen ein Tabu, denn sie erzählen nicht nur von Zusammenbrüchen und Verelendung, sondern auch vom Glück des Heroinrausches.
Die in Berlin lebende polnische Filmemacherin Mariola Brillowska hat signalrote Haare und erinnert an Pippi Langstrumpf, als sie auf die Bühne gebeten wird. Ihr abendfüllender Animationsfilm „Katharina & Witt“ fängt eigentlich ganz prima an mit irgendwelchen sehr schön animierten Slackern, die die ganze Zeit vor dem Fernseher sitzen, Pornos gucken, Bier trinken und nachher Sexorgien machen. Schön bunt wie bei Jim Avignon. Jedes der Bilder ist signiert: ein Künstlerfilm, der ein bißchen mit Pop kokettiert und sehr kunstsinnig die Ungerechtigkeiten des Kulturbetriebs beklagt.
Komischerweise ging mir während der Dokumentarfilmwoche die ganze Zeit ein Zitat aus einem grauenhaft konventionellen, ästhetisch anpasserischen Film über Lester Bowies „Art Ensemble of Chicago“ nicht aus dem Kopf: „You made a mistake / you did something wrong / make another mistake / and do something right.“ Komisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen